Leo Berlin
sah sie betroffen an und
überlegte rasch. Sie war also verabredet gewesen. Hatte sie etwa
einen Freund, von dem er nichts ahnte? Hier war Vorsicht geboten.
Er versuchte sie zu
beschwichtigen: »Wenn du das nächste Mal etwas vorhast, dann
sag es mir bitte rechtzeitig. Natürlich nehme ich Rücksicht
darauf, soweit meine Arbeit es zulässt.«
»Als wenn du mir je
Bescheid gesagt hättest, wenn du zu dieser Marlen gegangen bist. Und
dein beruflicher Ehrgeiz kommt immer an erster Stelle.«
Womit sie erneut ins Schwarze
getroffen hatte. Er hätte den Fall Klante nicht übernehmen müssen,
wollte ihn aber nicht an Herbert von Malchow abtreten. Sein Ehrgeiz und
die Abneigung gegen den Kollegen waren ihm in diesem Moment wichtiger
gewesen als Ilse und die Kinder. Andererseits spürte er noch die
Erregung, die ihn überkommen hatte, als Robert Walther ihm den
eleganten Knopf zeigte und als der alte Pole von dem Mann sprach, der Erna
in den Hinterhof gefolgt war. Diese Erregung war es, die ihn von einem
Fall zum nächsten lockte, die diesen Beruf zu etwas machte, das
über den reinen Broterwerb hinausging. Und er war davon überzeugt,
dass sich diese besondere Hingabe an seinen Beruf auch in seinen
Leistungen spiegelte. Vielleicht war ihm das zu wichtig, wie er sich in
seltenen Momenten eingestand.
Plötzlich hielt es ihn
nicht mehr in der Wohnung. »Ich gehe noch mal weg.« Mit diesen
Worten schloss er die Wohnzimmertür hinter sich, nicht laut oder
abrupt, sondern als hätten sie ein freundschaftliches Gespräch
geführt, das zu einem einvernehmlichen Ende gelangt war.
Er lief die Treppe hinunter,
nahm zwei Stufen auf einmal, es drängte ihn, von seiner Schwester
wegzukommen. Auf der Straße überlegte er kurz, dann ging er in
die Kneipe an der Ecke. Otto Piene, den Wirt, kannte er schon ewig. Er
stand wie immer hinter dem Tresen und polierte Gläser. Leo hielt
Ottos Gläser für die saubersten in ganz Moabit. »Wenn ick
poliere, kann ick jut zuhören«, pflegte der behäbige Wirt
mit den Hängebacken zu sagen.
Der Boden war mit frischen Sägespänen
bestreut, die Einrichtung schlicht, aber sauber. Ottos leidenschaftliches
Polieren erstreckte sich auch auf Tresen und Tische. Für einen
Sonntagabend war in der Kneipe viel Betrieb, Stimmengewirr und erregte
Diskussionen erfüllten den kühlen Schankraum. Otto begrüßte
Leo mit Handschlag und zapfte ihm ein Weißbier.
»Der Herr Kommissar am
Abend«, sagte er. »Wat ’ne Ehre.«
»Voll heute«,
meinte Leo. Otto brauchte nicht zu wissen, dass er es bei Ilse nicht
ausgehalten hatte.
»Ja, die Leute warn bei
der Kundjebung im Lustjarten. Ick konnte leider nich hin. So ’ne
Sauerei mit dem Rathenau, die Mörder jehörn selber erschossen.«
Leo sah sich um. Manche Männer
wirkten noch immer aufgebracht, ein KPD-Mann aus der Turmstraße
hatte eine Gruppe um sich versammelt und schlug beim Reden wiederholt mit
der Faust in die Handfläche. Hoffentlich hören die Politiker da
oben aufs Volk, dachte er bei sich. Allzu oft waren sie taub auf dem Ohr,
Republik hin oder her.
»Biste ooch dajewesen,
Leo?«, fragte der Wirt.
»Ja, ich habe mir die
Kundgebung angesehen. Ich kann die Leute gut verstehen. Alle haben
gedacht, das Morden ist endlich vorbei, und dann geht es zu Hause weiter.
Zuerst Erzberger, dann der Anschlag auf Scheidemann, jetzt Rathenau.«
Leo trank sein Bier aus und stellte das Glas auf den Tresen.
»Noch eins?«,
fragte der Wirt.
Leo schüttelte den Kopf.
»Schön, dat die
Ilse ooch mal ’n Netten jefunden hat, wa?«, meinte Otto dann
nichtsahnend.
Leo hoffte, dass ihm das
Erstaunen nicht zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. »Hm, ja«,
sagte er unverbindlich und hoffte auf eine nähere Erklärung.
Damit lag er bei dem gesprächigen
Wirt genau richtig. »Hab die beiden heut Nachmittach jesehn, so um fünfe.
Janz anständich, ohne Händchenhalten und Poussieren. Einfach
nett. Sind ’n bisschen auf und ab spaziert.«
»Das Wetter war ja schön«,
erwiderte Leo schwach, doch Otto merkte ihm anscheinend nichts an.
»Ja, ja. He, Justav,
noch ’ne Molle?« Der Mann, der sein leeres Glas gehoben hatte,
nickte. Leo konnte unmöglich weiterfragen, ohne seine
Ahnungslosigkeit zu offenbaren. Daher legte er eine Münze auf den
Tresen und verabschiedete sich von Otto.
Er ging hinaus in den kühlen
Sommerabend und
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