Leo Berlin
Lehmann hat auch nichts ergeben,
oder?«
Robert schüttelte den
Kopf. »Wir können unmöglich sämtliche Kunden überprüfen.
Ohne nähere Anhaltspunkte wie Fingerabdrücke oder Zeugenaussagen
kommen wir nicht weiter.«
Leo stand auf. »Ich gönne
mir heute einen Nachmittag zu Hause. Mit sämtlichen Akten des Falles
Sartorius. Ich möchte von Malchow nicht mehr über den Weg
laufen, sonst vergesse ich mich.«
»Ich kann’s
verstehen. Wobei ich nicht geglaubt hätte, dass er so weit geht und
mit der Presse redet. Er weiß doch, dass man ihn dafür
entlassen kann.«
»Sofern der Präsident
erfährt, wer geplaudert hat«, gab Leo zu bedenken.
Robert suchte im Vorzimmer
die Akten des unaufgeklärten Mordes an dem Heiler zusammen und überreichte
Leo den ganzen Stoß. »Die passen nicht in deine Aktentasche.«
»Macht nichts, ich
klemme sie unter den Arm. Bis morgen, Robert.«
Er ging schnell zu Hause
vorbei, um die Akten loszuwerden, und fragte Ilse nach der Bücherei.
»Die Krankenschwester sagte, du wüsstest Bescheid. Gibt es hier
überhaupt eine Leihbibliothek außer der vom alten Blum in der
Beusselstraße?«
»Nein, das ist die
einzige, die ich kenne. Die wird sie wohl gemeint haben. Wir sind schon
lange nicht mehr da gewesen, weil der Mann immer so unfreundlich ist. Aber
Marie würde sich sicher über ein paar Bilderbücher freuen«,
antwortete seine Schwester.
Da es noch früh am
Nachmittag war, ging Leo in Ruhe die belebte Turmstraße entlang. Das
schöne Wetter und das geschäftige Treiben konnten beinahe über
die elende Lage der meisten Menschen hinwegtäuschen, doch wenn man
genau hinsah, entdeckte man auch hier Bettler, Kriegskrüppel und
Kinder mit Hungerbäuchen.
Die Leihbücherei besaß
nur ein großes Fenster, das immer von einer Schmutzschicht bedeckt
war. Leo kam selten dort vorbei und hatte nie das Bedürfnis verspürt,
hineinzugehen. Nur einmal hatte er etwas für die Kinder ausgeliehen,
den Inhaber aber so mürrisch gefunden, dass er sich danach lieber bei
Ausverkäufen und Antiquariaten umgesehen hatte. Auch war es so
finster im Laden gewesen, dass man kaum die Titel entziffern konnte.
Schon von weitem sah er, dass
ein neues Schild über dem Eingang hing. Nicht mehr LEIHBIBLIOTHEK,
sondern BÜCHER BLEIBTREU stand in Goldbuchstaben darauf. Ob der
Besitzer gewechselt hatte? Er blieb vor dem Schaufenster stehen, das
frisch geputzt aussah und innen mit einem sauberen, dunklen Tuch ausgelegt
war, von dem sich die Bücher vorteilhaft abhoben. Eine bunte
Mischung: in einer Ecke Liebesromane, Kriminalgeschichten, Märchenbücher;
daneben einige liebevoll angeordnete Werke: ›Buddenbrooks‹,
›Der Untertan‹, Gedichtbände von Stefan George, Else
Lasker-Schüler und Rilkes ›Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge‹, dazu eine geschmackvoll gebundene
Shakespeare-Gesamtausgabe. Neugierig stieg er die drei Stufen hoch und drückte
gegen die Tür, die sich mit einem leisen Klingeln öffnete.
Der Laden wirkte viel heller
als früher. Der Raum war nicht allzu groß, aber sehr hoch, und
der Besitzer hatte den vorhandenen Platz geschickt ausgenutzt und die
Regale bis unter die Decke gezogen. Für mutige Leser stand eine
Trittleiter mit Rollen bereit.
Leo sah sich um. Was nicht
mehr in die Regale passte, stapelte sich ordentlich auf einigen Tischen.
Die wenigen freien Stellen an den Wänden waren mit gerahmten
Schriftstellerporträts geschmückt. Er wollte gerade nach
Heinrich Manns ›Der Untertan‹ greifen, als eine Frau aus dem
Hinterzimmer trat.
»Eine gute Wahl«,
sagte sie lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte ein paar Bücher
für meine Tochter ausleihen. Sie liegt im Krankenhaus und langweilt
sich.«
»Das kann ich
verstehen. Was hat sie denn?«
»Diphtherie, aber das
Schlimmste ist wohl überstanden«, sagte Leo mit unverhohlener
Erleichterung.
Die Frau deutete auf das
Hinterzimmer, aus dem sie eben getreten war. »Sie sind heute mein
erster Kunde – möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, während
Sie sich etwas aussuchen? Ich trinke lieber billigen Tee als ungenießbaren
Kaffee.«
Leo zögerte kurz, dann
nahm er das Angebot dankend an. Sie ging vor ihm her, glitt zwischen den Bücherstapeln
hindurch, als hätte sie sich nie woanders bewegt, ihr wadenlanger
Rock streifte im Vorübergehen die
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