Leo Berlin
Bücherstapel.
Das Hinterzimmer war winzig,
an der Wand Regale, ein Schreibtisch, der von weiteren Bücherstapeln
überquoll, und mittendrin zwei abgewetzte Sessel. In einer Ecke stand
ein russischer Samowar auf einem Hocker. Sie bot ihm einen Platz an, holte
zwei Tassen vom Schreibtisch und hantierte am Samowar. »Mit Zucker
ist der Tee so gerade genießbar. Clara Bleibtreu.« Sie gab ihm
die Hand.
»Leo Wechsler. Seit
wann gehört Ihnen die Bücherei? Beim letzten Mal empfing mich
ein brummiger, nicht allzu sauberer Alter, und man konnte kaum die Hand
vor Augen sehen.«
Clara Bleibtreu lachte.
»Der hat sich zur Ruhe gesetzt. Ich habe die Bücherei vor zwei
Monaten übernommen und vollständig renoviert. Das war eine Menge
Arbeit. Vor allem, wenn man sich das Streichen und Tapezieren erst
beibringen muss.«
»Haben Sie das etwa
alles selbst gemacht?«
»Das meiste jedenfalls.
Ich musste sparen.«
Als Leo sich gesetzt und den
ersten Schluck Tee getrunken hatte, nahm er sich Zeit, seine Gastgeberin
zu betrachten. Ende zwanzig, schätzte er, modisch kurzes Haar,
dunkelbraun mit einem leichten Rotschimmer, blaue Augen, ein kluges
Gesicht, nicht streng, aber entschlossen.
»Schön haben Sie
es hier.«
»Meinen Sie das ernst?
Ein bisschen eng ist es schon.«
Er stellte die Tasse ab und
sah Frau Bleibtreu offen an. »Natürlich meine ich es ernst.«
Dann schaute er auf die Uhr und meinte bedauernd: »Zeigen Sie mir
die Kinderbücher? Ich habe leider noch Arbeit zu Hause.«
»Aha. Und darf ich
fragen, worin Ihre Arbeit besteht?«
»Ich bin bei der
Kriminalpolizei.« Er sah Clara Bleibtreu prüfend an. »Viele
Leute erschrecken, wenn sie von meinem Beruf erfahren.«
»Ich habe nichts zu
verbergen, Herr Wechsler«, erwiderte sie lächelnd. »Außerdem
sind Sie ja nicht dienstlich hier.«
Sie führte ihn in eine
Ecke der Bücherei, wo ein ganzes Regal mit Kinderbüchern stand,
davor noch eine Kiste mit Bilderbüchern. »Was mag Ihre Tochter
denn?«
»Märchen. Vor
manchen hat sie Angst, die muss ich ihr dann erklären. Bei
Schneewittchen mag sie nicht die Stelle, wo der Jäger das Herz
herausschneiden soll.«
»Die hat mir auch nie
gefallen. Wie alt ist sie denn?«
»Vier.«
»Wie wäre es
hiermit?« Sie reichte ihm ein Buch mit dem Titel ›Kinder aus
aller Welt‹ . Auf dem Einband
fassten sich Kinder aus vielen Ländern an den Händen und
bildeten einen Kreis. »Da kann sie sehen und erfahren, wie Kinder in
China oder Indien leben. Ich finde das Buch sehr schön.«
Leo blätterte darin.
»Das nehme ich mit. Was bekommen Sie von mir?«
»Eine Woche kostet zehn
Pfennig.«
»Damit können Sie
aber auch nicht reich werden«, platzte er heraus. »Verzeihung.«
»Sie haben schon Recht.
Deshalb versuche ich, auch Bücher zu verkaufen. Eine richtige
Buchhandlung wäre mein Traum, aber die konnte ich mir nicht leisten.«
»Verkaufen Sie auch
Kinderbücher?«
Sie nickte und zeigte auf
eine Kiste. Leo kniete sich hin und suchte ein Märchenbuch mit schönen
Illustrationen aus. »Das nehme ich auch.«
Sie packte die Bücher in
Papier ein und reichte sie ihm über die Theke. »Dann bekomme
ich zwei Mark zehn. Und schauen Sie mal wieder rein.«
Das werde ich, dachte Leo,
als er mit seinem Päckchen draußen stand, ganz bestimmt.
15
Er breitete die Akten auf dem
Wohnzimmertisch aus und holte sich eine Kanne Tee aus der Küche. Ilse
war bereits in ihr Zimmer gegangen. Obwohl sie wieder miteinander
sprachen, war die Stimmung nicht entspannt genug, um einen gemeinsamen
Abend im Wohnzimmer zu verbringen. Doch Leo war in Gedanken ohnehin ganz
woanders.
Natürlich hätte er
sich auch in den Fall Klante vertiefen können, aber der Mord an
Sartorius ließ ihm keine Ruhe. Den Bericht kannte er beinahe
auswendig, doch er ahnte, dass neue Anhaltspunkte nur aus den Unterlagen
des Heilers zu gewinnen waren. Die er im Übrigen auch schon mehr als
einmal gelesen hatte.
Er schlug den Terminkalender
auf, dessen Eintragungen am 3. Februar 1917 begannen. Sorgfältig ging
er alle mit Bleistift ausgefüllten Spalten durch: Datum, Uhrzeit,
Name. Angaben zum Grund der Konsultation hatte Sartorius nicht gemacht.
Manche Patienten waren mit ihren Initialen, andere mit vollem Namen
vermerkt. Sie hatten sämtliche Patienten überprüft, deren
volle Namen angegeben waren. Bei den Initialen waren sie
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