Leo Berlin
entdeckte er den fast
unsichtbaren Einschnitt ganz oben in dem Papier, mit dem der Deckel
beklebt war. Vorsichtig schob er einen flachen Brieföffner hinein und
zog ein Blatt Papier heraus. Hauchdünn, wie Durchschlagpapier. Und
beidseitig beschrieben.
Gespannt schob er alles
beiseite und legte das Blatt vor sich hin. Leider war die Schrift schwer
zu erkennen, der Bleistift war ziemlich blass und das Papier so dünn,
dass die Schrift auf der Rückseite durchschimmerte. Diese
Aufzeichnungen waren gewiss nur für Sartorius persönlich
bestimmt gewesen.
Leo spürte ein Kribbeln
im Rücken. Solche Augenblicke waren alles andere wert, die mühseligen
Nachforschungen, die Laufarbeit, die langwierigen Befragungen verstockter
oder allzu gesprächiger Zeugen.
Er nahm sich das erste Blatt
vor, legte einen Notizblock daneben und fing an, das Geschriebene mühsam
zu entziffern und auf den Block zu übertragen.
V. D. – sxl. aa.,
mas. Ng., Pt., exz. Wg., 6 Bhdl.,
Dann folgten mehrere Daten,
die vermutlich für die Behandlungstermine standen. Er schlug im
Terminkalender nach. Sie stimmten mit den Tagen überein, an denen V.
D. als Patient eingetragen war.
Nicht nur, dass Sartorius die
Aufzeichnungen versteckt hatte, sie waren auch noch durch Abkürzungen
kodiert. Er schob sich die Haare aus der Stirn und stützte das Kinn
in die Hand. Sxl. stand vermutlich für
sexuell, aber was bedeutete aa ? Und mas. Ng. ? Er lehnte sich zurück und
klopfte mit dem Stift gegen die Zähne. Eines stand fest: Auf diesen
Blättern hatte Sartorius Informationen über Patienten gesammelt,
die nicht öffentlich werden sollten. Oder die er für
irgendwelche Zwecke benötigte. Erpressung? Nicht ausgeschlossen.
Welches Wort, das zwei a
enthielt, passte zu sexuell? Dann fiel es ihm ein: abartig, sexuell
abartig. Das kam hin. Aber welche abartige sexuelle Spielart war gemeint? Mas. Ng. , Neigung, das war es, und mas. – wie hieß gleich der
Begriff, den der Psychiater Krafft-Ebing geprägt hatte? Leo hatte
einmal einen kriminalwissenschaftlichen Vortrag über sexuelle
Perversionen gehört – ja, masochistisch, so lautete der
Ausdruck. Dieser Patient ließ sich also quälen.
Dann stand Pt. wohl für Peitsche und exz. Wg. – das war schwieriger.
Exzentrisch, exzessiv, das könnte stimmen. Und Wg. ? Würgen? Gab es so etwas?
Denkbar war alles. Warum war V. D. zu Sartorius gegangen? Um sich von
seinen, oder ihren, verhängnisvollen Neigungen kurieren zu lassen?
Wenn Sartorius das gekonnt hatte, musste er in der Tat ein Wundertäter
gewesen sein. Doch wenn sich jemand mit einer derartigen Neigung Sartorius
anvertraut und dieser das Geständnis womöglich finanziell
ausgenutzt hatte, bedeutete dies eine ganz neue Richtung für ihre
Ermittlungen.
Verdammt, und dabei ging der
Fall Klante nicht voran. Er würde Berns, Stankowiak und von Malchow
dafür abstellen müssen und mit Robert die Sartorius-Sache wieder
aufrollen.
Weiter zu P. W. Diesmal war
Sartorius vom bisherigen Kode abgewichen. Ob er ihn zu durchschaubar
gefunden hatte? Hier standen nur wirre Buchstabenreihen. Gleiches galt für
die Aufzeichnungen zu M. E. Ein Kode. Doch irgendwo musste ein Schlüssel
existieren. Und er würde ihn finden.
»Herr Edel? Das ist
aber eine Überraschung. Unser Mädchen ist gerade im Küchengarten,
deshalb öffne ich selbst die Tür. Bitte kommen Sie in den Salon.«
Frau Cramer blickte ein wenig
verwundert über die Schulter, als sie den unerwarteten Besucher in
den Salon führte. Sie hatte ihn nur einmal bei sich empfangen und
danach zwei- oder dreimal bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen.
Warum erschien er jetzt ohne Vorankündigung in ihrem Haus?
Sie bot ihm einen Platz an
und ging kurz in die Küche, um Tee zu bestellen. In der Eingangshalle
begegnete sie Viola, die gerade mit Peter Cornelissen von einem
Spaziergang heimkam.
»Wir haben Besuch,
Viola«, sagte sie mit einem Schulterzucken und einer Kopfbewegung
hin zum Salon. »Herrn Max Edel, den Fabrikanten.«
Viola legte ihren leichten
Sommermantel auf einen Stuhl und schaute ihren Begleiter an. »Was
will der denn hier?«
»Das weiß ich
noch nicht. Ihr könnt gleich zu uns hereinkommen und ihn begrüßen.«
Mit diesen Worten kehrte sie
zu Max Edel zurück, der sich in einem Sessel niedergelassen und die
Beine übereinander geschlagen hatte.
»Meine
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