Léon und Louise: Roman (German Edition)
schwiegen, aßen und tranken.
»Und Léon?«, fragte Louise schließlich. »Geht es ihm gut?«
»Unverschämt gut«, sagte Yvonne. »Sie werden sehen, er hat sich kaum verändert.«
»In all den Jahren nicht?«
»In all den Jahrzehnten nicht. Ich weiß nicht, ob Menschen sich im Leben überhaupt verändern, aber diese Le- Gall-Männer ändern sich ganz gewiss nicht. Sogar der Krieg geht an denen spurlos vorbei. Unsereiner hat ja einige Verschleißerscheinungen, und die Garantie auf die Originalteile ist wohl abgelaufen. Aber Léon? Der ist unverwüstlich. Rostfrei und leicht instand zu halten, sage ich immer. Wie eine landwirtschaftliche Maschine.«
Louise lachte, und Yvonne lachte mit ihr.
»Sein Haar ist ein bisschen schütter geworden«, fuhr Yvonne fort, »und seine Zehennägel sind seit ein paar Jahren merkwürdig gerillt. Kennen Sie das, diese Längsrillen auf den Nägeln, haben andere Männer das auch?«
»Die meisten, von einem gewissen Alter an«, sagte Louise.
»Und dass sie frühmorgens beim Aufstehen seufzen?«
»Auch das«, sagte Louise.
»Früher hat er das nie getan, aber jetzt seufzt er.«
»Lacht er noch?«
»Finden Sie, dass er früher viel gelacht hat?«
»Nicht sehr laut.«
»Léon lächelt eher.«
»Vor allem, wenn er sich unbeobachtet glaubt.«
»Sie sollten ihn besuchen, er würde sich freuen.«
»Meinen Sie?«
»Unbedingt. Was ist schon dabei, nach so vielen Jahren.«
»Wann soll ich kommen?«
»Nicht hier. Gehen Sie zum Arsenal-Hafen, dort hat er ein Boot. Es ist blauweiß angemalt und heißt Fleur de Miel . Der Kindskopf hat auf seiner Pinasse die Flagge der Basse Normandie gehisst. Die zwei goldenen Löwen auf rotem Grund, Sie wissen schon, Wilhelm der Eroberer, darunter macht er’s nicht. Jederzeit bereit, den Ärmelkanal zu überqueren und England zu erobern mit seiner Dieselpinasse.«
20. KAPITEL
Über die folgenden Jahre trafen Louise und Léon einander sehr, sehr oft am Arsenal-Hafen. Montag bis Samstag verbrachten sie gemeinsam die Mittagspause, abends die Stunden zwischen Feierabend und Abendessen. Nur sonntags sahen sie einander nicht. Wenn es regnete, blieben sie in der Kabine, sonst saßen sie auf der Holzbank am Heck oder gingen am Kanalufer spazieren. Sie hakte sich bei ihm unter, er schnupperte den Duft ihres sonnenbeschienenen Haars, und sie redeten leichthin miteinander.
Aber erst Ende der dritten Woche zogen sie zum ersten Mal in der Kabine die Vorhänge zu.
Als im November der Winter kam, heizten sie den Kanonenofen ein, kochten Kaffee und brieten Spiegeleier. Sie kauften ein Grammophon und Schallplatten von Edith Piaf, später von Georges Brassens und Jacques Brel. Sie freundeten sich mit den anderen Bootsbesitzern an und riefen sie beim Vornamen. Manchmal luden sie sie zum Aperitif. Wenn jemand fragte, wie lange sie schon verheiratet seien, antworteten sie: Seit bald dreißig Jahren.
Aber immer, ausnahmslos jeden Abend pünktlich um Viertel nach sieben Uhr kehrte Louise zurück in ihre Wohnung im Marais, die ihr die Banque de France besorgt hatte, und Léon machte sich auf den Heimweg in die Rue des Écoles, um mit Yvonne und den Kindern das Abendessen einzunehmen; danach half er den Kleinen bei den Hausaufgaben, spielte Karten mit den Großen und legte sich dann neben Yvonne schlafen.
Indem sie alle so weiterlebten, übten sie keinen Verzicht, trieben kein Doppelspiel und machten sich auch keiner Heimlichkeiten schuldig; sie setzten nur ihr bisheriges Leben in der einzig möglichen Weise fort, weil es ein neues Leben ohne das alte nicht geben konnte, für keinen von ihnen. Das wussten sie. Und weil daran nichts zu ändern war, erübrigten sich alle Streitereien und Debatten um richtig oder falsch.
Also schwiegen sie darüber. In der Rue des Écoles wurde Louises Name niemals ausgesprochen und das Hausboot am Arsenal-Hafen mit keinem Wort erwähnt. Yvonne wollte sich ihre katzenhafte Zufriedenheit in ihrem sonnenbeschienenen Sessel nicht verderben lassen und verbat sich unnötig offene Worte, die ohnehin nur zu unwürdigen Dramen, falschen Versöhnungen und geheuchelten Treueschwüren geführt hätten. Dabei forderte sie keineswegs das Aufrechterhalten eines falschen Scheins, denn sie war im Frieden mit sich und Léon und dem Leben, das sie geführt hatten. Sie verlangte lediglich, dass man ihre Würde respektierte und auf Plumpheiten verzichtete.
Von Geheimhaltung konnte sowieso keine Rede mehr sein, seit Madame Rossetos eins und eins
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