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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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zweiten Besuch und berichtete alles, was man amtlich hatte in Erfahrung bringen können – wann und wo genau und unter welchen Umständen David oder Cedric oder Philippe ums Leben gekommen war, ob er Qualen gelitten habe oder einen gnädigen Tod gestorben sei, und schließlich die drängendste aller Fragen: ob sein Körper zur ewigen Ruhe in die Erde gefunden habe oder zerfetzt, verbrüht und verfault, irgendwo im Schlamm verstreut, den Raben zum Fraß umherliege.
    Louise hatte kaum je etwas Tröstliches zu berichten, aber sie enthielt sich falscher Schonung und erzählte immer ungeschminkt die Wahrheit, soweit sie sie kannte, denn sie wusste, dass auf Dauer nur diese Bestand haben kann. Sie versah ihre Aufgabe mit großem Ernst, und die Einwohner von Saint-Luc dankten es ihr mit zärtlicher Zuneigung. Sie gewöhnten sich an das unheilverkündende Quietschen ihres rostigen Herrenfahrrads, und alle lauschten ihm hinterher und waren froh, wenn es leiser wurde und nicht abrupt vor ihrem Haus verstummte.
    Manche verehrten Louise wie eine Heilige. Davon aber wollte sie nichts wissen. Um die Gloriole zu zerstören, die man ihr aufsetzen wollte, rauchte sie ihre gezuckerten Zigaretten, badete sonntags halbnackt im Kanal und legte sich ein Arsenal ordinärer Schimpf- und Fluchwörter zu, die eigentümlich mit ihrer zarten Gestalt, ihrer hellen Stimme und ihrem gepflegten Französisch kontrastierten.
    Schlimm war, dass die Nachricht vom Tod eines Soldaten häufig lange Zeit vor der ministeriellen Verlautbarung in Saint-Luc eintraf – etwa, wenn ein Soldat auf Heimaturlaub am Küchentisch berichtete, dass der Lehrer Jacquet nur eine Armlänge von ihm entfernt mit zerschmettertem Schädel in einen schlammigen Bombenkrater gesunken sei, worauf die Nachricht in Windeseile von Haus zu Haus ging und sämtliche Küchentische des Städtchens erreichte – sämtliche Küchentische bis auf den einen, an den der Lehrer Jacquet nie mehr zurückkehren würde; denn das Verbreiten von Gerüchten war bei Strafe verboten, und Todesnachrichten durften den Hinterbliebenen, um schmerzvolle Irrtümer und Verwechslungen auszuschließen, nicht anders als auf dem Dienstweg überbracht werden. So geschah es, dass die Witwe des Lehrers Jacquet, die noch keine Ahnung hatte, dass sie eine war, auf dem Markt voller Vorfreude auf den Heimaturlaub ihres Gatten ein großes Stück Rindfleisch kaufte, während die anderen Frauen sie scheu mitfühlend aus den Augenwinkeln musterten und dann, um keinen Verdacht zu erregen, möglichst beiläufig grüßten.
    Mit Louises Amtsübernahme aber war auch dieses Problem gelöst. »Erzähl das gleich der kleinen Louise!«, sagte man fortan jedem Soldaten, der eine schlimme Nachricht heimbrachte; und wenn dann Louise mit ihrem quietschenden Rad vor der Tür der ahnungslosen Witwe vorfuhr, wusste diese gleich, dass sie für lange Zeit kein großes Stück Rindfleisch mehr kaufen würde.
     
    Léon Le Gall ging an jenem Abend, nachdem ihm der Wirt das alles erzählt hatte, in sehr nachdenklicher Stimmung nach Hause. Es war die erste warme Nacht des Jahres und einer jener Abende, an denen man das Wetterleuchten der Kriegsfront hinter Saint-Quentin sehen konnte, und gelegentlich, wenn der Wind aus Nordosten wehte, hörte man fernes Donnergrollen. Léon knöpfte seine Jacke auf und nahm die Mütze ab. Er beobachtete das Spiel seines eigenen Schattens, der jedes Mal, wenn er unter einer Straßenlaterne durchging, kurz und scharf vor seine Füße fiel, dann allmählich länger wurde und im heller werdenden Licht der nächsten Laterne ausbleichte, bis er ihm wiederum vor die Füße fiel und aufs Neue heller und bleicher wurde. Er zog seine Uniformjacke aus und warf sie sich über die Schulter, sie war viel zu warm für die Jahreszeit; überhaupt wunderte er sich nun, dass es ihm in den letzten fünf Wochen und drei Tagen nie in den Sinn gekommen war, für den Abendspaziergang das Dienstgewand mit den albernen Sergeantenstreifen abzulegen.
    Das Stationsgebäude am Ende der Platanenallee stand dunkel da, auch im Obergeschoss brannte kein Licht; Léon stellte sich vor, dass der alte Barthélemy, selig angeschmiegt an die tröstliche Wärme seiner Josianne, unter einer dicken Daunendecke dem Dienstbeginn am nächsten Morgen entgegenschlummerte. Er ging über den Bahnhofplatz zum Güterschuppen, dann die knarrende Treppe hoch; die Stille in seinem Zimmer sirrte vom Nachhall seiner Erinnerungen an den vergangenen Tag.
    Er dachte

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