Léon und Louise: Roman (German Edition)
daran, dass er auch am nächsten Morgen und an allen folgenden Tagen mit seiner roten Fahne die einfahrenden Züge begrüßen würde. Er dachte an seine Schlaumeiereien mit dem Morsegerät, an seine Furcht vor dem knackenden Gebälk und an die wortkargen Abende am Tresen des Café du Commerce, und er kam zu dem Schluss, dass alles, was er in seinem Leben machte, nicht gut war; es war auch nicht schlecht, denn immerhin hatte er bisher keinen nennenswerten Schaden angerichtet, niemandem Leid zugefügt und auch sonst nicht viel getan, wofür er sich vor seinen Eltern hätte schämen müssen; aber wahr war eben auch, dass nichts von all dem, was er Tag für Tag machte, richtig wichtig, schön oder gut war. Und ganz gewiss hatte er keinerlei Anlass, auf irgendetwas stolz zu sein.
Léon wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn Stimmengewirr aus dem Schlaf holte. Die Stimmen drangen durchs Fenster, das er offen gelassen hatte, weil die Nacht so warm war, und sie wurden begleitet von einem ungewohnten Gestank – einer Mischung ekelhafter Gerüche, deren Herkunft Léon sich nicht erklären konnte. Er stand auf und schaute hinunter aufs Gleis – im spärlichen Licht der Gaslaternen stand ein endlos langer Zug von Güter- und Viehwagen, und auf dem Bahnsteig gingen der alte Barthélemy und Madame Josianne eilig von einem Wagen zum nächsten. Léon stieg barfuß und nur mit seiner Hose bekleidet die Treppe hinunter.
Der Zug war so lang, dass er keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Manche Wagen waren geschlossen und manche standen offen, und aus allen strömte dieser fürchterliche Gestank nach Fäulnis und Exkrementen, und aus allen drangen Stimmen von Männern, die stöhnten und schrien und um Wasser bettelten.
»Junge, was machst du hier!«, sagte Madame Josianne, die Wasser aus einem großen Krug an die Soldaten verteilte. Die Soldaten lagen und saßen im Stroh auf nackten Holzbohlen, ihre Gesichter waren schweißnass und leuchteten im Licht der Gaslaterne, die Uniformen waren schmutzig, ihre Bandagen blutgetränkt.
»Madame Josianne …«
»Geh schlafen, mein kleiner Liebling, das ist nichts für dich.«
»Was ist hier los?«
»Nur ein Verwundetentransport, mein Engel, nur ein Verwundetentransport. Man bringt die armen Kerle in den Süden, in die Krankenhäuser von Dax, Bordeaux, Lourdes und Pau, damit es ihnen bald wieder besser geht.«
»Kann ich helfen?«
»Das ist lieb von dir, mein Goldschatz, aber geh jetzt. Lauf!«
»Ich könnte Wasser holen.«
»Nicht nötig, wir sind das gewohnt, dein Chef und ich. Ihr jungen Leute solltet das nicht sehen.«
»Madame Josianne …«
»Geh auf dein Zimmer, mein Liebling, sofort! Und mach das Fenster zu, hörst du!«
Léon wollte protestieren und schaute sich hilfesuchend nach Barthélemy um, aber der kam, kaum dass er gehört hatte, wie seine Josianne die Stimme erhob, schon herbeigeeilt. Er durchbohrte Léon mit strengem Blick und schürzte die Lippen, dass die Borsten seines Schnurrbarts waagrecht vorstanden, deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Güterschuppen und zischte:
»Tu, was Madame dir sagt! Abmarsch!«
Da kapitulierte Léon und ging auf sein Zimmer, aber das Fenster ließ er gegen Josiannes Anweisung offen stehen. Er stellte sich in den Schatten hinter dem Vorhang und beobachtete, was auf dem Bahnsteig vor sich ging; als der Zug anrollte, warf er sich aufs Bett. Und weil ihn das alles ermüdet hatte, schlief er ein, bevor der Nachtwind die letzten Schwaden des Gestanks davontrug.
Wie es der Zufall wollte, kam am folgenden Morgen kurz vor Dienstbeginn, als er auf dem Weg vom Güterschuppen zum Stationsgebäude war, unter eiligem Quietschen die kleine Louise durch die Allee gefahren. Die Platanen waren feucht vom Tau und glänzten im frühen Sonnenlicht, und in der Luft lag der Duft von hohem Gras und von Eisenbahnschotter, der sich an der Sonne erwärmt. Auf dem Bahnhofplatz trat Louise auf die Rücktrittbremse, dass der Kies unter ihren Rädern knirschte und eine Staubwolke über den Platz wehte. Sie stellte ihr Rad in den Unterstand und lief die drei Stufen hinauf zur Schalterhalle. Léon wäre ihr gern gefolgt, hatte aber die unaufschiebbare dienstliche Pflicht, seine rote Fahne aus dem Büro zu holen und rechtzeitig zur Ankunft des Personenzugs um acht Uhr sieben auf dem Bahnsteig zu stehen.
Als der Zug einfuhr, kam als einziger Fahrgast Louise aus dem Stationsgebäude. Erleichtert stellte er fest, dass sie eine Fahrkarte
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