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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Samstagmorgen mit den Taschen voller Geld zur Gare Saint-Lazare zu laufen und mit der Routine des Vielgereisten in den Zug nach Rouen zu steigen; etwas weniger angenehm war jeweils die Rückkehr am Sonntag mit dem schweren, zum Bersten gefüllten Koffer, den er, immer auf der Hut vor Polizisten und Wehrmachtsoldaten, die ganzen drei Kilometer vom Bahnhof bis zur Rue des Écoles schleppen musste.
    Am schwersten war dieser Winter für Yvonne. Seit die große Politik es für nötig erachtet hatte, die kleine Muriel in den Kohlekeller zu sperren und damit zur Bettnässerin zu machen, war ihr scharfer Verstand Tag und Nacht damit beschäftigt, ihre Familie gesund, bei Kräften und beisammenzuhalten. Die Eintragungen ins Traumtagebuch hatten nun ein Ende, mit rosa Sonnenbrillen, fließenden Sommergewändern und leichthin geträllerten Liedchen war es vorbei. Um nichts anderes mehr drehten sich ihre Gedanken als um die Frage, wie sie ihren Mann und ihre Kinder bis zum Kriegsende beschützen, ernähren und wärmen konnte und wie sich Kummer und Leid von ihnen fernhalten ließ.
    Sie verfolgte ihr Ziel mit der Schlauheit einer Geheimagentin, dem Opfermut einer Gotteskriegerin und der Rücksichtslosigkeit eines Panzersoldaten. Frühmorgens begleitete sie ihre Kinder eins ums andere zur Schule – auch den großen Michel, der sich vergeblich gegen den mütterlichen Geleitschutz sträubte –, und nachmittags holte sie sie alle wieder ab. Bevor sie Léon morgens aus dem Haus gehen ließ, spähte sie aus dem Wohnzimmerfenster und hielt links und rechts Ausschau nach Gefahren; und wenn er sich abends nach der Arbeit um ein paar Minuten verspätete, lief sie ihm entgegen und machte ihm bittere Vorhaltungen. Wenn eines ihrer Kinder hustete, besorgte sie unter Einsatz von Lügen, Falschgeld und ihres Decolletés Honig, Lindenblütentee und Sirolin, und als das Wasser in der Küche gefror, fällte sie am heiterhellen Nachmittag vor der rumänisch-orthodoxen Kirche unter den Blicken mehrerer Schaulustiger eigenhändig eine kleine Akazie, schleppte den ganzen Baum nach Hause und zerkleinerte ihn im Innenhof zu Brennholz.
    Als eines Nachts im Treppenhaus sonderbare Geräusche zu hören waren, kaufte sie anderntags auf dem Schwarzmarkt eine Mauser Kaliber sieben Komma sechs samt Munition und verkündete ihrem stirnrunzelnden Ehemann, dass sie jeden Fremden, der ohne ihre Einwilligung diese Wohnung betrete, ohne Vorwarnung totschießen werde. Als Léon zu bedenken gab, dass eine Pistole, die im ersten Akt an der Wand hängt, im zweiten Akt abgefeuert werden muss, zuckte sie mit den Schultern und sagte, das richtige Leben folge anderen Gesetzen als das russische Theater. Und als er wissen wollte, weshalb sie sich ausgerechnet für eine deutsche Pistole entschieden habe, erklärte sie ihm, dass die deutschen Ermittlungsbehörden, falls sie in einer deutschen Leiche deutsche Munition fänden, mit einiger Wahrscheinlichkeit nach einem deutschen Schützen suchen würden.
    Ob diese schwere Zeit Yvonne und Léon noch enger zusammenschweißte, weil sie einander jeden Tag aufs Neue ihre Treue und Verlässlichkeit bewiesen, oder ob ihnen unter der steten Bedrohung noch die letzte Hoffnung auf romantische Liebe abhandenkam, weil sie ganz pragmatisch als Kampfgemeinschaft zu funktionieren hatten – ob sie einander unter diesen Umständen also nähergekommen sind oder nicht, ist schwer zu sagen; man kann sich vorstellen, dass sie sich diese Frage gar nie stellten. Denn von Bedeutung war nicht das Etikett oder die Überschrift ihres Zusammenseins, sondern das tägliche Überleben; und jenseits aller Metaphysik hatte schlicht die Zeit gewisse Fakten geschaffen, die stärker ins Gewicht fielen als alle Worte.
    So war es eine Tatsache, dass sie beide nun über vierzig Jahre alt waren und mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lebensmitte überschritten hatten. Eine arithmetische Tatsache war es auch, dass sie von ihrem bisherigen Leben die Hälfte miteinander verbracht und bald mehr Nächte miteinander im gemeinsamen Ehebett als ohneeinander geschlafen haben würden. Absehbar war weiter, dass ihre Kinder in überraschend kurzer Zeit halbwegs erwachsen sein und als lebende Beweise dafür in die Welt hinausgehen würden, dass Yvonne und Léon ganz ordentliche Eltern gewesen waren. Bald würden die Tage, die ihnen auf Erden noch blieben, immer rascher verrinnen, und bald würde die Summe ihrer gemeinsamen Erinnerungen so groß sein, dass sie in jedem Fall

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