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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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berühmtesten Gauner von Paris – »Pierrot la Valise«, »François le Mauvais« oder »Feu-Feu le Riton« –, die ihre Gefängnisstrafen von zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren eingetauscht hatten gegen die Freiheit, Automobile und Benzin sowie gegen Feuerwaffen und deutsche Polizeiausweise. Noch war es nicht soweit, dass sie am hellichten Tag am Quai des Orfèvres auftauchten, um jene Polizisten zu verhaften, denen sie ihre Verhaftung verdankten – aber alle ahnten, dass es bald geschehen würde.
    Zwar kam es Léon nun zustatten, dass er seine Arbeit anonym und ohne Kontakt zur Außenwelt verrichtete; aber er konnte die Gefahr doch jeden Morgen förmlich riechen, wenn er im Treppenhaus an den verschiedenen Abteilungen vorbeiging, und es war ihm klar, dass jeder Kollege, jede Sekretärin, jeder Wachmann ein Handlanger der Gauner und Mörder sein konnte. Einen Ausweg sah er nicht. So verkroch er sich in sein Labor, tat seine Pflicht und vermied sorgfältig jede nicht unabdingbare Begegnung.
    Schon im November brachte ein umfangreiches Tief sibirische Kaltluft in die Stadt. Benzin und Diesel wurden rar, in den Straßen waren nur noch Fahrräder, Rikschas und Pferdekutschen unterwegs – und wenn mal ein Auto vorbeifuhr, konnte man mit großer Sicherheit annehmen, dass am Steuer ein Deutscher oder ein Kollaborateur saß. Das Auffälligste war die Stille in den Straßen und das kalte Schweigen der Menschen. Der Straßenlärm früherer Tage war verstummt, jetzt hörte man nur noch das Knirschen eiliger Schritte auf hartgefrorenem Schnee, gelegentlich ein Husten, einen hastigen Gruß oder die lustlosen Rufe eines Zeitungsausrufers, der schon längst nicht mehr daran glaubte, seine deutsch diktierten Blätter verkaufen zu können.
    Lautlos standen die Menschenschlangen vor den Läden, und der Polizist an der Straßenecke tat, als sei er gar nicht da. In den Cafés drängten sich die Leute in die Wärme der Kaffeemaschine und der grellbunten Likörflaschen, von denen die meisten verboten waren, und betrachteten schweigend den vergilbten Martini-Kalender und das Gesetzesblatt über öffentliche Trunkenheit; viele Gesichter glänzten fiebrig und hatten gerötete Nasen, die meisten trugen Mützen, Wollschals und Handschuhe, und allen konnte man ansehen, dass sie aus Wohnungen geflohen waren, in denen es kaum wärmer war als draußen auf der Straße.
     
    Die Le Galls gingen in langen Strümpfen, Handschuhen und Wollpullovern zu Bett, frühmorgens kratzten sie ihre gefrorene Atemluft von den Fensterscheiben. Gelegentlich brachte Léon ein Bündel Brennholz nach Hause, das er auf dem Schwarzmarkt ergattert hatte, dann saßen sie abends im Salon am offenen Kamin und schliefen wegen der ungewohnten Wärme reihum ein auf dem Sofa, im Fauteuil oder auf dem Perserteppich; lang nach Mitternacht, wenn das Feuer ausgegangen war und die Kälte wieder durch Ritzen und Spalten ins Haus kroch, trugen Yvonne und Léon die Kinder eins ums andere zu Bett.
    In einer jener Nächte zeugten sie ihren kleinen Nachzügler Philippe, der seinerseits ziemlich genau zwanzig Jahre später, im September 1960, auf dem Boulevard Saint-Michel ein junges Mädchen aus der Schweiz kennenlernen sollte, das eigentlich auf der Durchreise zu einem Studienaufenthalt nach Oxford war, dann aber seinen Zwischenhalt verlängerte und an einem milden Herbstabend mit Philippe ins Mansardenzimmer an der Rue des Écoles ging, weshalb es neun Monate später einem Bübchen das Leben schenkte, das in der Eglise Saint-Nicolas du Chardonnet auf meinen Namen getauft wurde.
     
    Immerhin blieben sie alle gesund, und sie brauchten nicht zu hungern. Da Léon und Yvonne sich noch lebhaft des Ersten Weltkriegs erinnerten, hatten sie vom Tag der Kriegserklärung an Notvorrat herbeigeschafft, so viel sie nur konnten. Weil die Preise bis in den Herbst nur mäßig gestiegen waren, hatten sie ihre Schränke gefüllt mit Säcken von Reis, Weizen und Hafer; darüber hinaus stauten sich im Lichtschacht über der Toilette hinter einem unscheinbaren Vorhang, hinter dem kein Plünderer Nahrungsmittel vermutet hätte, Hunderte von Dosen mit Bohnen, Erbsen, Kondensmilch und Apfelmus.
    Sogar Eier, Butter, Fleisch und Wurst kamen regelmäßig auf den Tisch, seit der älteste Sohn Michel jeweils am ersten Wochenende des Monats nach Rouen auf Besuch zu Tante Sophie fuhr, die ein herzliches Verhältnis zu einigen normannischen Milchbauern pflegte. Der Sechzehnjährige genoss es sehr, am

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