Léon und Louise: Roman (German Edition)
geflohen sind – dass wir also quasi die Deutschen Westafrikas sind. Das kam gar nicht gut an. Seither habe ich gelernt, dass es gut ist, auch mal zu schweigen, wenn man sich sein Teil denkt. Noch besser ist es, gar nicht zu erkennen zu geben, dass man überhaupt etwas denkt.
Eigentlich dürfte ich Dir keine Zeile schreiben, hier draußen ist alles noch immer sehr geheim; ich war wohl etwas vorlaut in meinem letzten Brief, als ich für Dich die ganze Warentransportgeschichte breitschlug im Glauben, dass doch eh alles egal sei. Der Kommandant hat mich seither mehrmals streng ins Gebet genommen und mir eingehend auseinandergesetzt, dass es sehr wohl drauf ankommt, was eine kleine Tippmamsell an einem windstillen Abend bei Honigmilch und Butterkeksen so von sich gibt, wenn ihr grad langweilig ist ums Vordermaul, und dass ein bisschen Geplapper in Zeiten wie diesen einen leicht vors Exekutionspeleton führen kann. Seither nehme ich mich zusammen und halte die Klappe, denn das Vaterland ist immerhin das Vaterland; andrerseits sind wir beide, Du und ich, halt auch immer noch da, und es ergeht mir noch immer so, dass ich mich Dir umso näher fühle, je weiter ich von Dir weg bin.
Zu gern wüsste ich, weshalb sich das nicht geändert hat über die Jahre – denn so großartig & einzigartig bist Du ja nun, seien wir ehrlich, auch wieder nicht. Jedenfalls bin ich doch froh über den steten kleinen Seelenschmerz, den Du mir bereitest; erstens ist Schmerz etwas Tröstliches, weil er nur den Lebenden widerfährt, und zweitens weiß ich ganz sicher, dass Du ihn genauso wie ich empfindest.
So vergeht kein Tag und keine Stunde, da ich Dir nicht dieses oder jenes erzählen möchte und mir nicht wünschte, dass Du hier wärst und sehen könntest, was ich sehe, und dass ich hören könnte, was Du zu alldem hier zu sagen hättest. Wenn ich Dir jetzt also wieder einmal gegen jede Vorschrift ein paar Zeilen schreibe, dann deshalb, weil eine derart günstige Gelegenheit vielleicht lange nicht wiederkehrt; mein Arbeitskollege Delaporte, der an Gelbfieber erkrankt ist und eine Reiseerlaubnis nach Dakar erhalten hat, will diesen Brief für mich mitnehmen und dafür sorgen, dass er ungeöffnet in der Rue des Écoles ankommt.
Ein halbes Jahr ist es jetzt schon her, seit ich Dir aus dem Hafen von Lorient geschrieben habe. Die Zeit vergeht rasch, besonders, wenn viel passiert, und mehr noch, wenn nichts passiert … und jetzt gerade, da ich dies schreibe, fängt dieser Vogel wieder an, der mich zum Wahnsinn treibt. Er ruft Ruuku-dii Ruuku-dii Ruuku-dii, stundenlang, tagelang und nächtelang mit einer Ausdauer, die seine Kräfte eigentlich übersteigen müsste, immer nur Ruuku-dii Ruuku-dii Ruuku-dii, bis ich spätnachts mit zerfetzten Nerven und den Zeigefingern in den Ohren einschlafe, weshalb ich nicht mal sicher zu sagen wüsste, ob das Vieh im Lauf der Nacht irgendwann mal für eine Stunde Ruhe gibt oder nicht. Versteh mich nicht falsch, es handelt sich gewiss um einen ganz harmlosen Vogel, und natürlich hat er genauso wie jeder von uns Anrecht auf sein Plätzchen in der Schöpfung, und objektiv gesehen ist sein Schrei vermutlich nicht mal besonders laut oder durchdringend; und doch treibt er mich dermaßen zur Weißglut, dass ich schon mehr als einmal mit der Pistole (jawohl, ich habe hier eine Pistole) ins Freie gelaufen bin und das Vieh ohne Zögern totgeschossen hätte, wenn ich es nur im Geäst der Akazie, in der es wohl sitzt, hätte ausmachen können.
Der Vogel hat mir nichts getan, wahrscheinlich ist er Vegetarier und macht sein Ruuku-dii Ruuku-dii aus ehrbaren Motiven, aus Gründen der Revierverteidigung vermutlich, vielleicht auch zwecks Weitergabe seiner Erbsubstanz oder einfach aus Spaß. Auf der Suche nach Erklärungen für seine unglaubliche Ausdauer bin ich darauf verfallen, dass es am Atmungssystem der Vögel liegen könnte, das ja irgendwie anders ist als bei uns Säugern; ich musste dazu am Collège hübsche Zeichnungen anfertigen mit blauen und roten Farbstiften, aber ich bringe es nicht mehr zusammen. Bei Vögeln fließt die Luft nur in einer Richtung durch die Lunge, ist es nicht so? Aber wie zum Teufel kommt die Luft dann wieder aus den Viechern raus? Natürlich gibt es hier keine Menschenseele mit einem Hauch von ornithologischer Bildung und keinen Larousse, in dem ich nachschlagen könnte; beides fände sich wohl in Dakar, aber das liegt tausend Kilometer westlich und ist unerreichbar ohne Reisebewilligung, die
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