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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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in seinem Schrank abzubauen, gleich zwei Dosen mitnahm, füllte sich die abschließbare Schublade in seinem Schreibtisch rasch mit sehr viel Geld.
    Léon zählte das Geld nicht. Er spielte nie damit und bündelte es nicht, er führte nicht Buch und vergewisserte sich nie, ob alles noch da sei – er schaute das Geld nicht einmal an. Nur einmal pro Woche öffnete er die Schublade, wenn er von der Rue Saint-Denis zurückkehrte. Er warf die neuen Scheine hinein, dann schloss er sie wieder ab und legte den Schlüssel offen in die Bakelitschale mit den Bleistiften und dem Radiergummi, wo ihn, gerade weil er weithin sichtbar war, garantiert niemand finden würde.
    Lange Zeit war Léon nicht klar, was er mit dem Reichtum anstellen sollte, den ihm Standartenführer Knochen sozusagen mit vorgehaltener Pistole aufdrängte. Mit Sicherheit wusste er nur, dass er sich die Demütigung ersparen wollte, persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Klar war ihm auch, dass er nach Mitteln und Wegen suchen musste, das Geld unter die Leute zu bringen, und dass es im zweiten Kriegsjahr am ganzen Quai des Orfèvres keinen einzigen Beamten mehr gab, der einen kleinen Zustupf nicht gut würde gebrauchen können zum Kauf von Rindfleisch, Kinderschuhen oder einer Flasche Rotwein auf dem Schwarzmarkt.
    Die Frage war, durch welche Kanäle er das Geld in Umlauf bringen sollte. Wenn er offen durch die Büros lief und es den Kollegen persönlich in die Hand drückte, würde Knochen davon Wind bekommen und ihn verhaften lassen wegen Diebstahl, Hehlerei, dienstlichem Ungehorsam und versuchter Sabotage. Und wenn er die Scheine heimlich in Umlauf brachte, indem er sie in den Manteltaschen, Korrespondenzfächern und Schreibtischschubladen der Kollegen deponierte, würden die pflichtbewussten Beamten unter ihnen das Geld zu ihren Vorgesetzten tragen und eine Untersuchung gegen Unbekannt wegen versuchter aktiver Bestechung fordern.
    Also verwarf Léon eine breite Streuung und fasste punktuelle Maßnahmen ins Auge. Im Untersuchungsrichteramt gab es einen Schreibgehilfen namens Heintzer, dessen elsässisches Anwaltspatent nach 1918 nichts mehr wert gewesen war. Er wohnte in einer feuchten Dreizimmerwohnung hinter der Bastille mit seinen sechs Kindern, seiner tuberkulösen Ehefrau und seiner trunksüchtigen Schwester, die Irmgard hieß, kein Wort Französisch sprach und vor Jahren unangemeldet bei ihm aufgetaucht war; darüber hinaus hatte er seinem alten Vater Geld zu schicken, der noch immer mit fünf Schafen und drei Hühnern in jenem windschiefen Höfchen zwischen Osenbach und Wasserbourg hauste, das die Familie zwei Jahrhunderte lang bewirtschaftet hatte.
    Heintzer ging gebeugt, seine Haare hingen ihm wie Federn über die Ohren, und sein Atem roch faulig auf mehrere Schritte Entfernung. Es kam hinzu, dass ihn am Quai des Orfèvres alle nur den »Boche« nannten, weil er groß und blond war und seinen elsässischen Akzent nie ganz hatte ablegen können, und dass er einen bösartigen Vorgesetzten namens Lamouche hatte, der ihn gern vor versammelter Belegschaft am grauen Hemdkragen zupfte und kopfschüttelnd mit dem Bleistift seine fadenscheinigen Jackenärmel durchbohrte. Weil der Boche dies alles mit Würde trug und auch sein Magengeschwür, seine kariösen Zähne und seinen Bandscheibenvorfall klaglos hinnahm, folgten ihm die Zartbesaiteten unter den Sekretärinnen mit aufmunternden Blicken; aber näherkommen wollten sie ihm, der Unglück, Armut und Krankheit magnetisch anzuziehen schien, denn doch nicht.
    Diesem Unglücksraben also folgte Léon eines diesigen Herbstabends auf dem Heimweg, um dessen private Anschrift in Erfahrung zu bringen. Am nächsten Morgen ging er eine halbe Stunde früher als gewohnt zur Arbeit, nahm die Schreibmaschine hervor und spannte einen Bogen ein. Als Erstes tippte er einen pompösen Briefkopf, in dem in vielfacher Wiederholung die Begriffe »Ministère«, »République« und »Sécurité« sowie »Président«, »Nationale« und »de France« vorkamen. Dann schrieb er »Einmalige Nachzahlung von nichtgeleisteten Kinderzulagen Februar 1932 bis Oktober 1941«, setzte einen astronomisch hohen Betrag ein und legte die entsprechende Anzahl Banknoten dazu. Er versah das Dokument mit einer barocken, unleserlichen Signatur und schrieb auf den Umschlag eine inexistente Absenderadresse, um sicherzustellen, dass das unausbleibliche Dankesschreiben des Boche bei keiner real existierenden Behörde ankommen und Stirnrunzeln auslösen

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