Léon und Louise: Roman (German Edition)
würde.
Nachdem er eigens ins 16. Arrondissement hinausgefahren war, um den Brief einzuwerfen, ließ er ein paar Tage verstreichen und untersagte sich unmotivierte Ausflüge ins Sekretariat des Untersuchungsrichteramts; als aber nach einer Woche am Quai des Orfèvres noch immer keine Gerüchte über verdächtige Geldgeschenke kursierten, ging er hinunter in die zweite Etage, um nachzusehen, wie es dem Boche nun ging. Er setzte sich im Flur auf die Wartebank und blätterte zur Tarnung in einer Aktenmappe, und als der Boche tatsächlich auftauchte, ging Léon an ihm vorbei und grüßte ihn beiläufig, und der Boche grüßte ebenso beiläufig zurück.
Beruhigt nahm Léon zur Kenntnis, dass Heintzer offensichtlich keinen Verdacht geschöpft, sich sein Befinden aber stark verbessert hatte. Seine Augenringe waren nur noch hellblau und nicht mehr dunkelgrün, er trug einen neuen Anzug und neue Schuhe, und sein Atem stank nicht mehr, und er ging nicht mehr gramgebeugt, sondern aufrecht wie ein junger Mann; als Léon nach ein paar Tagen wiederkam, hörte er ihn schon von Weitem herzhaft lachen mit einem Gebiss voller Zähne, die vielleicht nicht mehr alle ganz echt, dafür aber strahlend weiß waren. Und als er einen Monat später ein letztes Mal vorbeiging, stand der Boche mit einer blonden, Zigaretten rauchenden jungen Frau im Flur und hielt, während sie ihm Feuer gab, ihre Hand.
Vom Erfolg ermutigt, nahm Léon aufs Neue seine Schreibmaschine hervor. Der Telefonistin von der Sitte mit dem tapfer-traurigen Blick schickte er eine Steuerrückvergütung, einem Kollegen vom Fotolabor die Nachzahlung einer Fahrtkostenpauschale für die letzten fünf Jahre; Madame Rossetos erhielt rückwirkend Witwen-Ergänzungsleistungen und zusätzlich Ausbildungsgutschriften für ihre zwei Halbwaisen, und seiner Tante Simone in Caen ließ er eine nachträgliche Entschädigung für die Einquartierung von Kriegsvertriebenen 1914–1918 zukommen. Der Kellner vom Bistrot um die Ecke erhielt übers Außenministerium einen Zustupf von einem bisher unbekannten Onkel aus Amerika, und die Kioskfrau an der Place Saint-Michel bekam eine Rückvergütung für irrtümlich eingetriebene Standgebühren.
Dieses Verfahren der Geldverteilung bereitete Léon Vergnügen, aber es war zeitaufwendig; zudem gingen ihm allmählich die Adressaten aus. Mit der Zeit empfand er auch die Willkür seiner Auswahl als ungerecht. Weshalb sollten nur seine Günstlinge vom Mokka-Geld des Standartenführers profitieren, alle anderen hingegen nicht? Weil Léon aber keine Möglichkeit einer gerechten, nicht willkürlichen Auswahl sah, beschloss er, die Willkür aufzuheben, indem er sie seinem Willen enthob, auf die Spitze trieb und gänzlich dem Zufall unterwarf.
Nach Feierabend nahm er die Métro zur Gare du Nord, bog in die Rue de Maubeuge ein und warf an jedem frei zugänglichen Briefkasten ohne Ansehen der Anschrift eine Banknote ein – mal einen Zehner oder Fünfziger, meistens aber Hundertfrancscheine. An der Rue La Fayette angekommen, ging er weiter in südlicher Richtung durch die Rue Montmartre, wechselte nach Lust und Laune die Straßenseite, wie es ihm grad einfiel, und bedachte jeden Briefkasten mit einem Schein. In den Hallen angekommen, kaufte er mit dem Rest des Geldes ein Hähnchen für sich und seine Familie und fuhr damit nach Hause.
17. KAPITEL
Dann kam der Tag, an dem morgens bei Arbeitsbeginn keine Karteikarten mehr auf Léons Schreibtisch lagen – keine alten, wasserbeschädigten und auch keine neuen, unbeschriebenen. Léon sah sich im ganzen Labor um, dann setzte er sich hin und wartete. Als nichts geschah, setzte er Kaffeewasser auf, ging hinaus auf den Flur und hielt Ausschau. Als das Wasser kochte, brühte er seinen Kaffee auf und schenkte eine Tasse ein, setzte sich wiederum hin und wartete.
Nach dem Kaffee kehrte er zurück auf den Flur. Schräg gegenüber stand eine Tür offen. Ein Kollege saß weit nach hinten gelehnt in seinem Stuhl, die Hände hatte er im Nacken verschränkt. Léon schaute ihn fragend an. Der Kollege verzog den Mund zu einem waagrechten, unlustigen Grinsen und sagte: »Es ist vorbei, Le Gall. Aus und vorbei.«
Léon nickte, drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zurück ins Labor. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er keine Erleichterung, sondern Scham. Er schämte sich für sich selbst und für die gesamte Police Judiciaire , die nun keine Gelegenheit mehr haben würde, die schändliche Strafarbeit, die ihr
Weitere Kostenlose Bücher