Léon und Louise: Roman (German Edition)
Sonnenblumen von van Gogh, auf einem Regal standen zwei oder drei Dutzend Bücher. Léon setzte sich in den rissigen Ledersessel beim Kohleofen und streckte die Beine, stopfte sich eine Pfeife und steckte sie an. Dann schloss er die Augen, stieß kleine Rauchwolken aus und lauschte dem Geplätscher an der Bootswand.
Médine,
Im Dauerregen
des Juli 1943
Mein lieber, alter Léon,
bist Du noch da? Ich bin noch hier, wo sollte ich schon hingehen. Ich ersaufe wieder mal im Wasser – Wasser von oben, Wasser von unten, Wasser von vorne und hinten, Wasser von der Seite. Das Wasser quillt aus den Erdlöchern und tropft von den Wänden, es fällt vom Himmel, verdampft auf dem heißen Boden und kehrt in den kalten Himmel zurück, um sofort wieder herunterzufallen und ein nervenzerfetzendes Stakkato auf den Blechdächern zu trommeln, und wo zwischen den Sturzfluten noch etwas Raum für Atemluft wäre, wabert ein Brodem von Schimmel und Moder, dass man sich hinlegen und sterben möchte. Keinen Schritt kann ich vors Haus tun, ohne knöcheltief, knietief im Schlamm zu versinken. Der Schlamm quillt zwischen meinen Zehen hervor und dringt mir unter die Nägel, ich habe schon Pilze und Flechten auf der Kopfhaut und Wahnvorstellungen von Maden und Würmern, und meine Füße haben vom roten Schlamm eine Tönung von Terrakotta angenommen, die ich auch mit noch so kräftigem Schrubben nicht mehr wegbringe. In einem verzweifelten Versuch, mich vor dem ewigen Schlamm zu schützen, habe ich kürzlich meine hübschen Pariser Kalbslederstiefel hervorgeholt, die ich am Tag meiner Ankunft in einer Truhe verstaut hatte – sie haben ringsum einen fingerdicken Pelz aus schneeweißem Schimmelpilz angesetzt. Es wird allmählich Zeit, in den kühlen Norden zurückzukehren. Bis es soweit ist, gehe ich barfuß.
Meinen Alltag hier kannst Du Dir nicht albern genug vorstellen. Ich habe zwar Kopfläuse und brüchige Fingernägel, und an all meinen Röcken ist der Saum ausgefranst – aber ich gebe noch immer tapfer die Tippmamsell. Jeden Morgen trete ich mit meiner tragbaren Schreibmaschine vors Haus, wo schon mein persönlicher Tirailleur mit meinem persönlichen Regenschirm wartet, und folge meinen drei Vorgesetzten und deren Tirailleurs sowie unserer persönlichen Eskorte, die aus zwanzig weiteren Tirailleurs besteht.
Als Erstes gehen wir zum Aussichtsturm, der einen Steinwurf von unserer Festung entfernt neben dem Gleis steht. Ein Tirailleur stellt eine Leiter an den Turm, mein Chef klettert hinauf zur Eingangstür, die sich in drei Metern Höhe befindet, und schaut nach, ob das Siegel noch intakt ist. Derweil stellt ein anderer Tirailleur einen Klapptisch für mich auf und spannt schützend einen großen Schirm darüber, und wenn mein Chef wieder festen Boden, das heißt: warmen Schlamm unter den Füßen hat, setze ich mich an meine Maschine und nehme das Protokoll auf. Im Gebüsch kauern regennasse Hyänen und beobachten uns mit geschürzten Lefzen. Nasse Hyänen sind ein unsagbar elender Anblick, lass Dir das gesagt sein. Schon in trockenem Zustand ist die Hyäne ein Sinnbild für die Unvollkommenheit der Kreatur, aber nass! zerreißt sie einem das Herz.
Sobald ich mit meinem Protokoll fertig bin, verfügen wir uns zur Bahnstation, wo unser Zug, der aus einer Lokomotive und zwei Waggons besteht, schon abfahrbereit unter Dampf steht. Wir steigen in den für uns reservierten Wagen erster Klasse, die Tirailleurs quetschen sich in den offenen Viehwagen zu den Bauern, die wie jeden Morgen mit ihrem Gemüse, ihrer Hirse und ihren Hühnern und Ziegen die zwölf Kilometer flussabwärts nach Kayes zum Markt fahren. Dann fährt der Zug an, und wir ruckeln los, erst über einen Bach, dann zwischen ein paar Hügeln hindurch in eine Schlucht, die in die Ebene von Kayes führt.
Unser Wagen sieht aus wie bei Micky Maus und die Lokomotive wurde wahrscheinlich von Pfadfindern gebaut, und überhaupt ist die Bahn eine Schmalspurbahn, und Schmalspurbahnen sind nun mal wie Männer mit kleinen Penissen: Es fällt schwer, sie richtig ernst zu nehmen. Man kann sich hundertmal selbst ermahnen, dass es auf Länge und Breite nicht ankommt und die wirklich wichtigen Qualitäten keine Frage des Metermaßes sind – es kommt eben doch drauf an, allein schon wegen des Aussehens. Gewisse Dinge sehen im Großformat einfach besser aus als in Miniatur, findest Du nicht?
Der Bahnhof von Kayes ist ein Puppenstubenbahnhof mit glänzenden Signalen, akkuraten
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