Léon und Louise: Roman (German Edition)
aufgezwungen worden war, niederzulegen.
Äußerlich kehrte eine Art Normalität in Léons Alltag zurück. Standartenführer Knochen und sein Adjutant ließen sich nicht mehr blicken, die Kaffeelieferungen blieben aus. Zwar war die Schublade noch immer reichlich mit Banknoten gefüllt, jedoch der Zwang zur ständigen Geldverteilung war vorbei. Eigentliche Laborarbeit fiel kaum an. Wohl kamen wieder deutlich mehr Menschen zu Tode als im sonderbar friedfertigen Sommer 1940, aber die meisten Opfer wiesen keine Vergiftungssymptome auf, sondern Schussverletzungen.
Léon beschloss, seine vor anderthalb Jahren unterbrochene informelle Doktorarbeit über Pariser Giftmorde wieder aufzunehmen. Allerdings musste er es vermeiden, Knochen zusätzlich zu reizen. Bevor er eigenmächtig undurchsichtige Schriftstücke verfasste, würde er ihn um eine formelle Bewilligung ersuchen und ihm die Harmlosigkeit seiner Untersuchung darlegen müssen. Léon schämte sich seiner vorauseilenden Unterwürfigkeit, und noch mehr schämte er sich, dass er keine Möglichkeit sah, weniger unterwürfig zu sein.
Anfang Februar 1942 tauchte in Léons Labor ein Jules Caron aus der Buchhaltung auf, der noch nie im vierten Stockwerk gesehen worden war. Er hatte Pockennarben auf den Wangen und trug eine Brille mit Schildpattgestell, und seine Nase war kurz und sein Mund ein einziger Strich. Léon kannte den Mann von gelegentlichen Begegnungen im Treppenhaus. Sie hatten einander jeweils kurz und sachlich gegrüßt, wie das zwischen Kollegen aus unterschiedlichen Abteilungen üblich ist, waren aber nie stehen geblieben und hatten nie miteinander geredet. Und jetzt stand er vor Léons Schreibtisch und rieb sich den Nasenrücken wie ein Schulbub, der zum Direktor zitiert worden ist.
»Hör zu, Le Gall. Wir kennen uns schon lange.«
»Ja.«
»Wenn auch nicht sehr gut.«
»Das stimmt.«
»Was machst du da gerade?«
»Ein bisschen Statistik. Todesfälle durch Vergiftung 1924 bis 1940.«
»Aha. Ich bin seit zwölf Jahren im Haus. Und du?«
»September 1918. Bald vierundzwanzig Jahre.«
»Gratuliere.«
»Na ja.«
»Die Zeit vergeht.«
»Ja.«
»Macht es dir etwas aus, wenn ich die Tür schließe?«
»Bitte sehr.« Léon hatte noch Filterkaffee in der Kanne. Er schenkte zwei Tassen ein.
»Du musst dich über meinen Besuch wundern, wir kennen uns ja eigentlich nicht.«
»Dienst ist Dienst.«
»Ich bin nicht dienstlich hier. Es geht, wie soll ich sagen …«
»Ich höre.«
»Ich wäre nicht hier, wenn ich die geringste Aussicht auf eine andere …«
»Ich bitte dich.«
»Ich bin hier … versteh mich nicht falsch. Die Leute reden.«
»Über mich?«
»Man hört so dies und das.«
»Was denn?«
»Na, einiges. Hör zu, Le Gall, mir ist egal, was du treibst, ich will es nicht wissen. Ich mach’s kurz: Willst du mein Boot kaufen?«
»Wie bitte?«
»Ich habe ein Boot, nicht weit von hier. Nichts Besonderes, eine hölzerne Pinasse, drei auf sieben Meter zwanzig mit Doppelkabine und Zwölf-PS-Dieselmotor. Achtzehn Jahre alt, aber gut in Schuss. Es liegt im Arsenal-Hafen.« Caron schaute beunruhigt um sich. »Kann ich hier reden, hört uns auch keiner zu?«
»Sei unbesorgt.«
»Du musst mir helfen, Le Gall. Ich muss verschwinden, in die freie Zone. Heute Abend noch, spätestens morgen früh.«
»Wieso?«
»Frag nicht, die Warnung war deutlich. Ich brauche Geld für mich und meine Familie. Wenn’s geht, auch für die Schwiegereltern. Wirst du mir helfen?«
»Wenn ich kann.«
»Die Leute sagen, du hast Geld.«
»Wer sagt das?«
»Stimmt’s?«
»Wie viel brauchst du?«
»Ich verkaufe dir meine Pinasse.«
»Ich will deine Pinasse nicht.«
»Und ich will kein Almosen.«
»Wie viel?«
»Fünftausend.«
»Wirst du schweigen?«
»Mich sieht hier keiner mehr, mein Zug fährt um halb drei.«
Léon nahm den Schlüssel aus der Bakelitschale und öffnete die Schublade, zählte fünftausend Franc ab und legte noch tausend Franc dazu. Während er das Bündel über den Tisch schob, streckte ihm Caron einen Schlüsselbund entgegen.
»Das Boot heißt Fleur de Miel . Hellblauer Rumpf, weiße Kabine, rotweiß karierte Vorhänge.«
»Ich will dein Boot nicht.«
»Es hat Dieselmotor, Holzofen und zwei Kojen.«
»Ich will es nicht.«
»Und elektrisches Licht. Nimm es als Pfand und halte es für mich in Schuss.«
»Steck den Schlüssel wieder ein.«
»Den Motor musst du alle zwei Wochen anwerfen, sonst bekommt er Standschäden. Falls ich in
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