Léon und Louise: Roman (German Edition)
zwei oder drei Jahren noch nicht zurück sein sollte, musst du den Kahn aus dem Wasser nehmen und frisch streichen. Wenn der Krieg vorbei ist, hole ich ihn mir wieder und gebe dir das Geld zurück.«
»Vergiss das Geld«, sagte Léon
»Dann vergiss du, dass das Boot jemals mir gehörte.«
Caron stand auf, legte den Schlüssel auf den Tisch und hob zum Abschied die Hand.
Léon legte den Schlüssel zum Geld, sperrte die Schublade zu und beugte sich wieder über seine Statistiken. Nach ein paar Wochen aber stand er immer häufiger am Fenster und betrachtete die Schleppkähne, die nur noch selten und vereinzelt auf der Seine vorbeizogen; wenn eine Pinasse auftauchte, schaute er besonders aufmerksam hin. Er erkundigte sich in der Buchhaltung nach dem Kollegen Caron und erfuhr, dass dieser mit seiner ganzen Familie spurlos verschwunden war.
Mit der Zeit dachte er immer öfter an das Boot mit den rotweiß karierten Vorhängen und machte sich Sorgen um den Dieselmotor. Er dachte an rostende Simmenringe und korrodierende Stecker, zerbröselnde Dichtungen und blockierte Ventilfedern, und er dachte daran, dass die Möwen das Boot mit ihrem Kot verkrusten würden, wenn niemand nach dem Rechten sah. Die Clochards würden sich Zugang zur Kajüte verschaffen und die Tür offenstehen lassen, und dann würden Wind und Wetter und die Schulbuben das Werk der Zerstörung vollenden; gelegentlich dachte Léon auch an Caron, der sich irgendwo unter der Sonne des Südens nach dem milchigen Pariser Himmel sehnte und darauf hoffte, dass Le Gall sich um seine Fleur de Miel kümmerte.
An einem zaghaften Frühlingstag Ende des dritten Kriegswinters ging Léon mittags nicht nach Hause, sondern über die Île Saint-Louis und den Pont Sully zum Arsenal-Hafen.
Das braune Wasser im Hafenbecken kräuselte sich in der Frühlingsbrise. Drei winterdicht verpackte Ausflugskähne waren an ihren Pollern vertäut, zwei oder drei Dutzend Pinassen wiegten sich leise im Wind; manche waren grün und manche rot, einige waren hellblau, und mehrere hatten rotweiß karierte Vorhänge – aber Fleur de Miel hieß nur eine.
Léon blieb auf der Quaimauer stehen und betrachtete das Boot. Es war übersät mit Möwenkot, in den Ecken lag Laub und am Schiffsrumpf hatte sich unter der Wasserlinie ein zotteliger Pelz von Grünzeug festgesetzt; aber die Planken schienen in Ordnung und die Fugen frisch kalfatert, und der Lack war einwandfrei. Die rotweißen Vorhänge waren sorgfältig zugezogen und das Vorhängeschloss an der Kabinentür war unversehrt.
In dem Augenblick, da Léon den Schlüssel aus der Tasche nahm, fühlte er, wie das Boot in seinen Besitz überging. Endlich hatte er wieder ein Boot. Es fühlte sich genauso an wie damals in Cherbourg, als er mit Patrice und Joël jenes Wrack im Gebüsch versteckt hatte. Wie lange war das her – ein Vierteljahrhundert? Léon wunderte sich, dass er all die Jahre nie wieder den Wunsch nach einem eigenen Boot verspürt hatte. Einen Renault Torpedo oder eine Motobécane hatte er sich gewünscht, ein Landhaus an der Loire, eine Uhr von Bréguet, einen Billardtisch und ein Feuerzeug von Cartier – aber nie wieder ein Boot. Und jetzt lag es vor ihm.
Léon atmete tief durch und ging mit einem großen Schritt an Bord. In jener Sekunde war er sich ganz sicher, dass er dieses Boot niemals mehr hergeben und mit niemandem teilen würde; er würde keine unwillkommenen Gäste empfangen, und überhaupt würde er keiner Menschenseele die Existenz dieses Bootes verraten. Selbst seine Frau Yvonne, die ja ausdrücklich nichts zu tun haben wollte mit seinen Kaffee- und Geldgeschichten, würde er nicht ins Bild setzen, und ein Kinderspielplatz würde dieses Boot auch nicht werden. Es gehörte ihm ganz allein und niemandem sonst.
Léon war in feierlicher, gehobener Stimmung, als er das Boot vom Bug bis zum Heck abschritt. Das Vorhängeschloss sprang mit einem leichten Klacken auf. Die Tür war ein wenig verzogen und klemmte, drehte sich aber nach einem entschlossenen Ruck leicht und geräuschlos in den gut geschmierten Angeln. Im Innern duftete es gemütlich nach erloschenem Holzfeuer, gebohnerten Planken und Pfeifentabak, vielleicht auch nach Kaffee und Rotwein. In einer Ecke lag eine zur Seite gekippte Spielzeuglokomotive, in einem Bastkorb ein Knäuel Strickgarn, das von zwei Holznadeln durchbohrt war. Die Lokomotive würde er dem kleinen Philippe, das Strickgarn Madame Rossetos mitbringen. Zwischen zwei Bullaugen hingen die
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