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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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ist nie ein Brief von Dir hier angekommen, ich hatte Dich ja gewarnt. Überhaupt kommt rein gar nichts jemals hier an. Wir bekommen keine Löhne und keine Anweisungen mehr, keine Verpflegung und keine Munition, keine Zeitungen und keine Kleider. Ab und an kommt wie gesagt ein Flieger vorbei und erzählt wirres Zeug, das man nicht recht glauben kann, und vor ein paar Monaten hat der Kommandant drei junge Burschen verhaften lassen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, verdammt schlecht Französisch sprachen, sich darüber hinaus verdächtig für unseren Aussichtsturm interessierten und sich schließlich als Deutsche herausstellten; aber sonst sind wir allein – die Welt hat uns vergessen.
    Umgekehrt beginnen auch wir die Welt zu vergessen. Nach einer Weile gewöhnt man sich an die Hitze und vermisst den Winter nicht mehr. Man isst Couscous, als wären’s Pommes Dauphinoises, und eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit hatte ich zum ersten Mal einen Traum nicht in französischer Sprache, sondern auf Bambara.
    Vom Krieg bekommen wir hier gar nichts mit. Die Baobab sind die Baobab und die Kakerlaken die Kakerlaken; die Gewehre setzen Rost an, weil sie nie abgefeuert werden, und die Tirailleurs sterben nicht im Kampf, sondern an Typhus und Malaria. Vielleicht wüssten wir schon gar nicht mehr, weshalb wir überhaupt hier sind, wenn nicht unser Funker Galiani aus den Kadavern mehrerer elektrotechnischer Geräte ein Kurzwellenradio gebastelt hätte, mit dem wir ganz ordentlich BBC London empfangen.
    Ob ich auch Dich vergessen habe? Na, ein wenig schon – es hat ja keinen Sinn, sich hier Tag für Tag vor Sehnsucht zu verzehren. Und doch habe ich Dich, daran ändert sich nichts, immer bei mir. Es ist sonderbar: An meinen Vater und meine Mutter habe ich nur noch vage Erinnerungen, von den Gefährten meiner Kindheit weiß ich kaum mehr die Vornamen – aber Dich habe ich ganz lebhaft vor mir.
    Wenn der Wind durch die Bäume braust, höre ich Deine Stimme, die mir schöne Sachen ins Ohr flüstert, und wenn das Rhinozeros im Senegal-Fluss gähnt, sehe ich Deine Mundwinkel, die stets freundlich aufwärts gekrümmt sind, auch wenn Du gar nicht lächeln willst; der Himmel hat das Blau Deiner Augen, und das dürre Gras ist blond wie Dein Haar – ich werde schon wieder lyrisch.
    Die Liebe ist doch eine Anmaßung, nicht wahr? Besonders wenn sie schon ein Vierteljahrhundert dauert. Möchte zu gern wissen, was das ist. Eine hormonelle Dysfunktion zwecks Reproduktion, wie die Biologen behaupten? Seelentrost für kleine Mädchen, die ihren Papa nicht heiraten durften? Daseinszweck für Ungläubige? Das alles zusammen, mag sein. Aber auch mehr, das weiß ich.
    Da wir schon beim Thema sind, kann ich Dir mitteilen, dass der Funker Galiani seit gut einem Jahr, wie man so sagt, mein Liebhaber ist. Du lachst? Ich auch. Das ist wie im Theater, nicht wahr? Wenn im ersten Akt ein Italiener mit Schnurrbart auftritt, muss er im dritten Akt die junge Heldin küssen. Allerdings bin ich nun schon eine Weile keine junge Heldin mehr, und auch Galiani ist als romantischer Herzensbrecher nicht die bestmögliche Besetzung mit seiner Spuckerei, seinen lauten Sprüchen, seinen kurzen Gliedmaßen und dem dichten schwarzen Körperhaar, das ihm aus der Uniform quillt.
    Eines aber zeichnet ihn aus: Er ist anders als Du. Gerade deshalb, weil er ein infantiler Rohling ist, der jedem Weiberrock hinterherguckt, gerade weil er groteske Komplimente verteilt, eine dicke Goldkette um den Hals trägt und dauernd auf das Grab seiner Mutter schwört, obwohl er gar nicht weiß, wo das Grab seiner Mutter sich befindet – gerade deshalb ist er der Richtige. Er muss anders sein als Du, verstehst Du?
    Es begann eines Abends vor gut einem Jahr im Raucherzimmer der Offiziersmesse. Ich hatte einen Anfall von Schwermut, wie das jedem anständigen Menschen hin und wieder passiert, und verbarg ihn vor den anderen, indem ich Witze riss und besonders laut lachte. Da stand Giuliano Galiani auf und ging hinter meinem Sessel zur Kommode, um sich ein weiteres Glas unseres selbstgebrauten Hirsebiers einzuschenken, und im Vorbeigehen legte er mir beiläufig, absichtslos und halb unbewusst, wie mir schien, die Hand auf die Schulter aus instinktivem Mitgefühl. Dafür war ich dankbar.
    Als nach Mitternacht alles schlief, bin ich in sein Zimmer gegangen und habe mich wortlos zu ihm ins Bett gelegt. Er hat nichts gesagt und nichts gefragt und ist zur Seite gerutscht, als hätte er mich seit

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