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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Rasenflächen und unkrautfreien Schotterbetten. Die Bauern im Viehwagen müssen mit ihren Hühnern und Ziegen sitzen bleiben, so sind die Regeln, bis wir ausgestiegen und hinter der Absperrung angelangt sind. Im Schatten des Vordachs wimmelt es von Menschen. Nackte Kinder mit runden Bäuchen, Frauen mit toten Augen, denen der Schmerz über ihre rituelle Verstümmelung unauslöschlich ins Gesicht geschrieben steht, und ihre Männer, die uns anschauen in hoffnungslosem Trotz, verschlossenem Stolz oder hündisch wedelnder Unterwürfigkeit.
    Unter ihren stummen Blicken gehen wir über die Straße, wo wie ein mauretanisches Märchenschloss die Verwaltung der Chemins de Fer du Soudan Français aus der staubigen Steppe ragt, in deren Keller wir – jetzt kann ich es Dir erzählen, nun ist es wirklich egal – achthundertsiebzig Tonnen Gold eingelagert haben. Weitere zweihundert Tonnen haben wir bei der Zollverwaltung unten am Fluss gebunkert, hundertzwanzig Tonnen im Keller des Kreiskommandanten und achtzig Tonnen in der Pulverkammer der Kaserne. Überall kontrollieren wir die Siegel, inspizieren die Wachen und vergewissern uns, dass nichts von unserem nutzlosen Weichmetall gestohlen wurde. Die Prozession dauert zwei Stunden, dann nehmen wir den Mittagszug zurück nach Médine.
    Während des trockenen Halbjahrs wird alle zwei Monate Inventur gemacht, dann brauchen wir für jede Station einen ganzen Tag. Erst werden die Siegel entfernt und die Türen geöffnet, und dann schleppen die Tirailleurs sämtliche Kisten ans Tageslicht und legen sie in der Steppe in Zehnerreihen nebeneinander, und dann nimmt mein Chef den Bestand auf, indem er auf die erste Kiste steigt, mit großen Schritten zur nächsten, zur übernächsten, zur überübernächsten Kiste schreitet und mit lauter Stimme die Zählung vornimmt. »Zwei Zentner!« – Schritt – »vier Zentner!« – Schritt – »sechs Zentner!« – Schritt – »acht Zentner!« … und die Tippmamsell sitzt an ihrem Klapptisch und macht Striche, und zum Schluss schreibt sie einen ordentlichen Rapport. Wenn schließlich alle Kisten abgeschritten sind, die zur Tarnung noch immer mit dem Schriftzug »Explosif« versehen sind, verschwindet alles wieder im Keller, die Türen werden versiegelt, und wir kehren zurück in die Offiziersmesse, wo wir uns von den Anstrengungen des Arbeitstags erholen.
    Gelegentlich landet ein Flieger in der Steppe und zeigt einen Wisch, auf dem steht, dass er zwei oder drei Kisten abholen soll. Dann fragen wir nicht lange, sondern sperren einen Keller auf. Früher kamen die Boten aus Vichy, seit einiger Zeit aus London. Das Gold der Belgier mussten wir vor einiger Zeit herausrücken, um die Deutschen zufriedenzustellen, und das polnische Gold ebenfalls. Man darf gespannt sein, wer ihnen das zurückerstattet, wenn der Krieg erst mal vorbei ist.
    Es ist nun schon die dritte Regenzeit, die ich hier verbringe, die Zeit vergeht rasch. Drei Monate noch, dann trocknet die Welt wieder, und ich kann mein altes Herrenfahrrad hervornehmen, das ich vorletztes Jahr auf dem Markt in Kayes gekauft habe und das mir während der Trockenzeit die Illusion von Freiheit vermittelt. Dann besuche ich die umliegenden Dörfer oder fahre die paar Kilometer flussaufwärts zum Elektrizitätswerk von Félou und gehe an den Stromschnellen Tiere beobachten mit den Brüdern Bonvin, die hier in klösterlicher Abgeschiedenheit ihren Dienst als Ingenieure tun und längst zur Erkenntnis gelangt sind, dass die hiesige Fauna unendlich interessanter ist als ihr Kraftwerk mit seinen Kanälen, Schleusen und Turbinen, das ja, wenn man seine Funktionsweise erst mal begriffen hat, eine recht einfältige Sache ist. Bei meinem letzten Besuch habe ich von ihnen erfahren, dass das berühmte Gelächter der Hyänen ein Unterwerfungsritual rangniedriger Individuen ist; sie betteln damit um einen Anteil an der Beute oder um Aufnahme in die Meute. Da kannst Du mal sehen, Gelächter ist die Waffe der Machtlosen. Macht lacht nicht.
     
    Übrigens bin ich ziemlich ergraut. Als ich vor drei Jahren hier ankam, hatte ich ein paar weiße Strähnen, jetzt sind nur zwei oder drei dunkle Strähnen übrig geblieben. Ein bisschen abgenommen habe ich wohl auch, ich habe Beine und Brüste wie eine Zwölfjährige. Rennen und Radfahren kann ich auch wie eine Zwölfjährige und jawohl, das Gebiss ist noch vollständig, danke der Nachfrage.
    Wie oft hast Du mir in der Zwischenzeit geschrieben, Léon – zehnmal, hundertmal? Es

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