Léon und Louise: Roman (German Edition)
hatte er sich auch die kapriziöse Diva zurückgewünscht und zuweilen sogar die von Sinn- und Selbstzweifeln gequälte Hausfrau; jetzt aber empfand er nur mehr Dankbarkeit und Hochachtung für die selbstlos kämpfende Löwin, zu der Yvonne in den Kriegsjahren geworden war. Von ihr auch noch zu verlangen, dass sie kokette Lieder trällerte oder auffordernd mit dem obersten Knopf ihrer Bluse spielte, wäre in höchstem Maß unfair gewesen.
Für Yvonne und Léon war der Beweis längst erbracht, dass sie ein gutes, starkes Ehepaar waren, das schon viele Stürme überstanden hatte und auch künftigen Gefahren gemeinsam die Stirn bieten würde; ihr Vertrauen ineinander und ihre gegenseitige Zuneigung waren so tief und stark, dass sie einander in Frieden ihrer Wege gehen lassen konnten.
Auch die Kinder wollten nicht wissen, wo Léon seine einsamen Stunden verbrachte. Bis auf den kleinen Philippe waren nun alle schon ein wenig groß und mit ihren eigenen Kämpfen beschäftigt. Von ihrem Vater erwarteten sie lediglich, dass er die Festung hielt und die Sippe mit Zuneigung und Geld versorgte, und im Übrigen waren sie ihm dankbar, dass er ein milder, freundlicher Patriarch war, der kaum Fragen stellte und nur selten etwas forderte.
Gerechterweise muss man sagen, dass Léon sich seine väterliche Milde nur deshalb leisten konnte, weil Yvonne ihrerseits umso strenger die Aufsicht behielt. Keine Minute des Tages durfte vergehen, ohne dass sie über den Verbleib ihrer vier Kinder unterrichtet war, lückenlos verlangte sie Bescheid zu wissen über deren Unternehmungen, Gesundheitszustand und Bekanntenkreis.
Und wenn wieder ein Tag voller Gefahren gemeistert war und die Kinder sicher schlafend in ihren Betten lagen, hatte Yvonne nicht etwa Feierabend, sondern erörterte mit Léon bis tief in die Nacht alle möglichen Gefahren. Sie sprach von faschistischen Schulmeistern und betrunkenen SS-Männern, von frei lebenden Wüstlingen, Amok laufenden Automobilisten und hochansteckenden Mikroben, ebenso von Hitze, Regen und Frost sowie den steigenden Nahrungsmittelpreisen und den Unwägbarkeiten des Schwarzmarkts, und unermüdlich erwog sie mögliche Fluchtwege durch die Wälder, durch die Luft und übers Wasser oder einen Rückzug in die Katakomben der Stadt für den Fall, dass die Apokalypse von deutscher Hand doch noch herbeigeführt werden sollte.
So sehr erfüllte Yvonne ihre Mission als Schutzherrin, dass nichts anderes mehr in ihrem Wesen Platz hatte. Sie pflegte keine Bekanntschaften und führte kein Traumtagebuch, trug keine rosa Sonnenbrillen und sang keine Schlager mehr; für Léon war sie wohl noch eine treue Gefährtin, aber längst keine Ehefrau mehr, und gegenüber ihren Kindern brachte sie vor lauter Fürsorge keine Zärtlichkeit mehr auf.
Die jahrelange Anstrengung und Angespanntheit stand ihr nun ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen waren wimpernlos und ihre Wangen hohl, und ihr langer, einst elegant geschwungener Hals war straff gereckt und von Sehnen und Adern durchzogen; sie hatte breite, eckige Schultern und keine Brüste mehr, und ihr Bauch war unter den Rippen hohl.
Im Treppenhaus brüskierte sie die Nachbarinnen, indem sie grußlos an ihnen vorüberlief. Sie schminkte sich nicht mehr und wurde dünn und immer noch dünner, weil sie zu essen vergaß. An ihrer Wohnungstür hatte sie zwei Fluchtkoffer abgestellt, die das Notwendigste für die ganze Familie enthielten, und sie konnte nicht anders, als mehrmals täglich nachzuschauen, ob sie auch wirklich nichts einzupacken vergessen hatte. Erst als sie ihre Schuhe nicht mehr auszog, um jederzeit bereit zu sein, auch nachts und im Bett nicht, rief Léon sie sanft zur Ordnung und sagte, dass man doch im Interesse der Kinder ein Mindestmaß an Formen einhalten müsse.
Die Kinder schätzten die alltäglichen Risiken realistischer ein. Sie wussten, dass sie als christlich getaufte Beamtenkinder keinem militärischen Beuteschema entsprachen und dass die übrigen Gefahren der Großstadt unter der Okkupation eher geringer waren als in Friedenszeiten. So fand jedes von ihnen seine eigene Methode, sich der Mutter zu entziehen und erste Schritte auf seinem eigenen, ihm bestimmten Weg zu unternehmen.
Meine Tante Muriel, die 1987 an einer Leberzirrhose sterben sollte, war damals sieben Jahre alt. Sie hatte Sommersprossen und hellgrüne Schlaufen im kastanienbraunen Haar, und sie verbrachte ihre schulfreien Mittwochnachmittage und die Sonntage am liebsten in der Loge von
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