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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Madame Rossetos, die das Mädchen stundenlang auf dem Schoß wiegte, mit Süßigkeiten fütterte und mit rollenden Augen furchterregende Geschichten von Liebe, Mord und Höllenqualen erzählte. Die Concierge versorgte Muriel mit der Zärtlichkeit, die sie von der Mutter nicht erhielt, und das Mädchen seinerseits tröstete die Frau über die Treulosigkeit ihrer Töchter hinweg, die seit Jahren nichts mehr von sich hatten hören lassen. Kurz vor fünf Uhr ging Madame Rossetos stets zur Kommode und schenkte sich einen kleinen Eierlikör ein. Und weil die kleine Muriel so ein liebes Kind war, bekam sie ebenfalls einen Fingerhut voll. Erst schmeckte er ihr nicht so recht, aber schon bald lernte sie seine Wirkung schätzen.
    Mein Onkel Robert, dem später ein kleines Stellenvermittlungsbüro in Lille gehören sollte, richtete auf dem Dachboden einen Kaninchenstall ein und verbrachte seine Tage damit, für die rasch wachsende Zucht im ganzen Quartier Latin Grünzeug aus vermoosten Dachtraufen und gepflasterten Hinterhöfen herbeizuschaffen. Das Schlachten übernahm er selbst, die Kundschaft erhielt ihren Braten ofenfertig. Ein Kaninchen pro Monat überließ er der Mutter, die übrigen verkaufte er auf dem Schwarzmarkt. Er sollte an einem Septembermorgen des Jahres 1992 am Steuer seines Renault 16 sterben, als er sich auf der Route Nationale zwischen Chartres und Le Mans eine Zigarette ansteckte und auf der regennassen Fahrbahn ins Schleudern geriet.
    Der dreizehnjährige Yves, der später Arzt werden und noch später die Medizin für die Theologie an den Nagel hängen sollte, schloss sich zum Kummer seiner Eltern freiwillig den Chantiers de Jeunesse an. Er erhielt eine schwarze Uniform, Kampfstiefel und weiße Gamaschen, und er lernte die Reden des Marschalls auswendig und marschierte wochenlang mit Rucksack, Käppi und Fahrtenmesser durch die Wälder von Fontainebleau.
    Der neunzehnjährige Michel, der bei Renault in die Geschichte eingehen sollte als Erfinder des abschließbaren Benzintankdeckels, wartete auf einen Studienplatz am Technikum und schlug die Zeit tot mit tagelangen Spaziergängen durch die Stadt auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Gefängnis, als das er sein Leben empfand. Für den Autismus seines Vaters hegte er eine unausgesprochene Verachtung, für den opportunistischen Überlebensdrang seiner Mutter ebenfalls. Zwar wusste er, dass auch er es nicht in sich hatte, für eine gute Sache zu sterben, aber ein Mitläufer wollte er doch nicht sein. Wenige Monate vor der Reifeprüfung hatte er vom Gymnasium abgehen wollen, weil bei der Anmeldung zum Examen alle Mädchen seiner Klasse – wirklich alle – nicht mehr Englisch, sondern Deutsch als erste Fremdsprache gewählt hatten. Um diesen Abgang zu verhindern, war Léon seinem Erstgeborenen für einmal mit väterlicher Autorität entgegengetreten. Erst hatte er ihm den Wert klassischer Bildung nahezubringen versucht und darauf hingewiesen, dass immerhin die Burschen seiner Klasse sich mehrheitlich zur Englischprüfung angemeldet hatten; und als diese Argumente nicht verfingen, hatte er ihn ganz einfach mit fünfhundert Franc bestochen.
    Der im zweiten Kriegsjahr geborene Philippe – mein Vater – hing noch am Rockzipfel seiner Mutter. Nur am Sonntagnachmittag, wenn Yvonne allein im abgedunkelten Schlafzimmer schlief und kein Kind in ihrer Nähe duldete, ging er mit Muriel zu Madame Rossetos. Dann saß er auf dem Schoß der Schwester, welche auf dem Schoß der Concierge saß, und lauschte ihren schauerlichen Geschichten. Und weil er so ein lieber Bub war und so hübsch stillhielt, durfte er ein bisschen an Madame Rossetos’ Eierlikör nippen. Er sollte sein Leben lang ein lebenskluger, aber lebensuntauglicher und untreuer Freund der Frauen bleiben, den erst sein eigener Charme in die Einsamkeit und dann die Trunksucht in den Tod trieb.
     
    Léon Le Gall lebte weiter das Leben eines Einsiedlers. Er ging zur Arbeit und erfüllte seine Pflichten als Familienvater, und ansonsten verkroch er sich in die Heimlichkeit seines Hausboots. Zu seinem Glück stellte es sich heraus, dass Jules Caron eine Vorliebe für die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gehabt hatte; im Regal standen Tolstoj und Turgenjew, Dostojewski und Lermontow sowie Tschechow, Gogol und Gontscharow. Léon las sie alle, und dazu rauchte er Pfeife und trank Rotwein, der ihn übrigens nicht eigentlich betäubte, sondern eher in einen angenehmen Zustand metaphysischer Wohligkeit

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