Léonide (German Edition)
auf, wie angespannt ich seine Reaktionen beobachtet habe.
»Hast du überall nachgesehen?«
Ich nicke. Mein Blick wandert zurück zum Bett, wo ich das Tagebuch zurückgelassen habe, dort, auf dem abgewetzten Laken. Auf den Kissen liegen einige Papierfetzen verstreut. Verwirrt beuge ich mich hinüber und greife nach einem.
Der Schnipsel ist zu klein, als dass man etwas darauf lesen könnte, doch das ist gleichgültig – ich erkenne die schräge, e n ge und etwas krakelige Schrift auch so.
Das Tagebuch, nun nicht mehr als ein kleiner, unbedeute n der Haufen zerrissenen Papiers. Zerstörungswut. Unerfüllte Träume. Die Sehnsucht nach etwas Größerem, die von Panik und Versagensängsten überschattet wird. Erinnerungen an a n dere Zeiten. Alles, was übriggeblieben ist.
Er war es. Frédéric hat es getan , raunt Costantinis Stimme mir zu . Er wollte verhindern, dass du zu oft an deinen Bruder denkst. Er wollte dir helfen.
»Warst du das?« Ich lenke Frédérics Aufmerksamkeit auf den Haufen von zerfetztem Papier auf meinem Kopfkissen. »Stimmt es, dass du das getan hast?«
Eine Flut von Empfindungen überschattet Frédérics Blick. Verwunderung. Plötzliches Begreifen. Zorn. Sein Mund zieht sich wieder zu jener Linie zusammen, die ich heute schon viel zu oft zu sehen bekommen habe.
»Wer sagt so etwas? Wie, zum Teufel, kommst du darauf?«
Das Tagebuch, verloren. Alles, was von meinem Bruder ü b rig war , zerstört. Trotzdem trifft mich sein Verlust nicht ann ä hernd so hart wie die Tatsache, dass ich Frédéric tatsächlich bezichtigt habe, obwohl er ganz offensichtlich nicht in der L a ge dazu wäre, so etwas zu tun. Nun bin ich also bereits so weit, Costantinis Einflüsterungen Glauben zu schenken, ohne sie zu hinterfragen. Ich weiß nicht länger, was in mir den Wunsch erweckt, Costantini zu folgen, ihm zu glauben, ihm zu helfen. Er hat meinen Bruder dem Untergang geweiht, und doch …
»Ich weiß es nicht.« Es ist die falscheste Antwort, die ich h ä t te geben kö n nen.
»Du weißt es nicht? Verdammt, Léo, was stimmt nicht mit dir? Wie kommst du darauf, mir so etwas vorzuwerfen? Wie kommst du darauf, dass ich so etwas tun würde? Glaubst du, ich würde dich mutwillig verletzen? Denkst du, ich weiß nicht, was dein Bruder dir bedeutet hat – nein, noch bedeutet ? S onst wären wir nicht an diesem gottverlassenen Ort auf dieser vö l lig sinnlosen Reise . « Frédéric packt eines seiner Hemden und stopft es in seine Reisetasche.
»So denkst du also darüber?«
Er hält inne, aus seinen Augen sprühen Funken. »Ich bin wegen dir hier. Weil ich dich nicht alleinlassen wollte. Weil ich dich liebe .«
Ich schüttle den Kopf, die letzten Worte überhörend. »Das reicht nicht.« Lass ihn los … »Vielleicht ist es besser, wenn du nicht mit nach Les Baux kommst, Frédéric.«
Ich sehe seine Wut und Enttäuschung und schwöre mir im selben Augenblick, dass es damit nun vorbei ist. Ich will nicht länger der Auslöser für seinen Schmerz sein. Ich werde mein Herz verschließen und meine Gefühle dort behalten.
»Wenn es das ist, was du willst.«
»Ja.« Ich blicke ihn nicht an, obwohl – nein, gerade weil – ich seinen Schmerz beinahe körperlich spüre.
Aus de n Augenwinkel n sehe ich, wie Frédéric langsam nickt , wie er den Rest seiner Habseligkeiten in die Reisetasche packt , wie sein Gesicht von Minute zu Minute ausdrucksloser wird.
»Ich hätte es dir erzählt, weißt du ? «, sagt er schließlich. »A l les, was ich fühle und jemals gefühlt habe. Welchen Schmerz die Liebe bereitet, immer wieder, vor allem, wenn sie sich mit Ve r rat paart. Wie es ist, alles hinter sich zu lassen und einsam zu sein. Ich habe geglaubt, du wärst anders. Ich dachte, ich kön n te dir alles anvertrauen und diese Last von mir werfen. Aber ich habe mich getäuscht.«
Tränen. Ich halte den Blick gesenkt, aus Angst, er könnte sie sehen. Trotz des Kaminfeuers ist mir kalt.
»Du hast r echt «, fährt Frédéric fort, »es ist wohl besser, wenn ich nicht mit nach Les Baux komme.« Er lacht auf. »Wahrscheinlich war ich dir von Anfang an nur ein Dorn im Auge – der Mann, der sich angemaßt hat, dir helfen zu wo l len.«
»Das ist nicht wahr.«
Frédérics Miene bleibt ausdruckslos. »Natürlich nicht.«
Ich nehme die Papierfetzen vom Kopfkissen , die einmal Wi l lems Tagebuch waren, und stecke sie in me i ne Manteltasche. Das Einzige, was mir von meinem Bruder geblieben ist, abg e sehen von seinen
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