Léonide (German Edition)
gehören.
Leere Augen. Es wirkt, als hättest du die Suche aufgegeben. Das, was ich dir zu geben bereit bin – willst du es nicht mehr?
»Léonide«, flüstere ich, doch du hörst nichts. Deine Augen sind geöf f net, doch du siehst nichts. Starrst ins Leere. Deine Fingerspitzen berü h ren den rauen Stein der Mauer, doch du fühlst nichts, nicht einmal die feinen Flechten, die deine Haut streifen. Die Luft ist geschwängert vom warmen, würzigen Duft der Pinien, von Lavendel und weißen Oleande r blüten, doch du nimmst es nicht wahr, riechst nichts. Wenn man sehr a ufmerksam ist, kann man das Salz des fernen Meeres auf den Lippen schmecken. Doch du schmeckst nichts, nimmst die Taubheit deiner Zunge gleichgültig hin.
Ich trete hinter dich, lege meine Hände um deine Taille. Die Worte, die ich dir ins Ohr flüstere, verwehen im Wind. Du drehst dich nicht zu mir um. Hart fühlst du dich an mit deinen erstarrten Augen.
Du bist nicht du mit diesen Augen.
Auch, als ich deinen Nacken küsse, regst du dich nicht. Meine Hände hüllen dich ein in dem Versuch, die Wärme in deinen Körper zurückz u tragen. Ich drehe dich zu mir um und blicke einem Gespenst ins Gesicht. Der Funke in deinen Augen ist erloschen, und nun sind sie ohne Se h kraft. Deine Lippen sind blau, und du bist blass, so blass wie eine Tote.
Als ich dir über die Wange streiche, teilen sich deine Lippen zu e i nem Schrei.
Atmen. Sich festhalten, auch, wenn man am liebsten losla s sen und in die Tiefe stürzen würde. Hinnehmen, was gesch e hen ist, daraus lernen, es verkraften und dann weitermachen.
Es ist schwer. Schwerer, als ich dachte. Am liebsten würde ich mich verkriechen, fern von der Welt, und mit niemandem mehr sprechen. Ich bin mir selbst fremd geworden – norm a lerweise neige ich nicht zu Selbstmitleid oder dem Wunsch, mich zu verstecken, bloß weil ich Schlimmes erlebt habe und mich nun davor fürchte, dass es wieder passiert.
Andererseits ist mir nie zuvor so Schlimmes widerfahren wie in den letzten Wochen.
Ich stehe eine ganze Weile am Rand des Dorfes, gegen das niedrige Steinmäuerchen gelehnt, und denke an nichts. Es fällt mir erstaunlich leicht – scheinbar schlummert das verbo r gene Talent der Verdrängung in mir, das ich früher nie g e braucht habe.
Obwohl sich die Landschaft deutlich von anderen G e genden in der Provence unterscheidet, ist Les Baux ein wu n derschöner Ort. Der Grund für das ungewöhnliche Lan d schaftsbild liegt einer alten Geschichte zufolge darin, dass Herakles, nachdem er die zehnte Aufgabe für Eurystheus erl e digt und sich von Spanien auf den Heimweg gemacht hatte, in der Provence von den Ligurern a n gegriffen wurde. Da Herakles die Pfeile ausg e gangen waren und er sich nicht zur Wehr setzen konnte, eilte der Göttervater Zeus ihm zu Hilfe und ließ einen Steinhagel auf die Ligurer niedergehen. Seitdem ist Les Baux ein Ort der Steine, rau und voller Echos.
Diese schroffe, zerklüftete Felsenlandschaft mit den scharfen Zacken und tiefen Spalten, in denen Menschen verschwinden können, ohne dass man jemals wieder von ihnen hört; die an die raue Vegetation gewöhnten, spärlichen Pflanzenbüschel und Baumstämme, die aus jeder Ritze und jedem Erdhügel brechen; der stürmische Himmel, über den wie zerrissene T ü cher Wolken jagen. Von dem Schnee, der Roussillon unter e i ner Decke aus Stille und Abgeschiedenheit begraben hat, ahnt man hier, in Les Baux-de-Provence, nichts. Es ist beinahe warm in dem roten und orangefarbenen Licht, das über den Felsen und der Erde liegt.
Als aber die rote Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, schwingt das Wetter rasch um und mir wird wieder b e wusst, dass ich mich noch nicht um eine Unterkunft gekü m mert habe. Nun hat sich die Luft innerhalb weniger Minuten merklich abgekühlt und der Wind hat aufgefrischt. Es riecht nach Regen. Ich bin erleichtert darüber, dass ich nichts fühle oder denke, obwohl ich weiß, dass ich nicht bis in alle Ewigkeit davor weg laufen kann.
Plötzlich erklingt ein Lachen, das die Stille durchschneidet und von dem ich nicht weiß, ob es aus der Ferne oder aus meinem Inneren kommt. Es lässt etwas in mir zersplittern. Die Scherben bedecken den schwankenden Grund meiner Seele und bohren sich in mein Fleisch. Dort werden sie bleiben, bis jemand kommt, um sie aufzuheben. Wahrscheinlicher ist alle r dings, dass sie mit meiner Haut verwachsen werden, bis ich sie kaum noch spüre. Nur hin und wieder werde ich ihre
Weitere Kostenlose Bücher