Léonide (German Edition)
Bildern – aber die sind weit weg, in Arles. Meine Eltern haben selbst die, die Willem in Saint-Rémy g e malt hat, nach Hause bringen lassen. Nun stehen sie in se i nem Zimmer, wo noch immer sein Geist zu spüren ist. Ein Altar für seine Seele.
Wir packen schweigend zusammen. Das Stille erweckt das Gefühl in mir, gar nicht anwesend zu sein, ein Geist, der noch nicht begriffen hat, dass er gestorben ist. Nachlässig schreibe ich eine knappe Nachricht an meine Tante, die ich unten beim Wirt aufgeben will. Ich teile ihr von meinen Plänen mit, nach Les Baux weiterzureisen, und bitte sie, meine Eltern von me i ner Abwesenheit in Kenntnis zu setzen.
Ich verlasse Roussillon am frühen Nachmittag. Noch immer wirbelt der Schnee in kreisenden Bewegungen um die Häuser, Bäume und Felsen und lässt die Welt hinter einem weißen Schleier verschwimmen. Auf den Straßen ist niemand unte r wegs – jeder Schritt auf dem Weg, dem ich folge, ist von einer namenlosen Stille durchzogen. Das Gefühl ist angenehm und schrecklich zugleich . Ein Schicksal, dem ich nicht zuwiderha n deln kann. Ruhe und Taubheit, die mich den Zusamme n halt meines Körpers und meiner Seele vergessen machen. Ich schwebe in einem Raum aus Echos, endlosem Weiß und a b gründigen Schatten, und meine Schritte tragen mich wie von selbst.
Frédéric ist nicht mehr da. Er ist eine halbe Stunde vor mir nach Arles abgereist. Wir sind ohne große Worte oder En t schuldigungen auseinandergegangen. Frédéric hat seine G e fühle sorgsam vor mir verschlossen, genauso wie ich die me i nen vor ihm. Es ist besser so , versuche ich mir einzureden.
Die Droschke setzt sich in Bewegung. Am Horizont, hinter den Wirbeln und dem Schleier aus Schnee, steht eine blutrote Sonne, die die Erde mit ihrem Licht durchtränkt, als woll t e sie sie fruchtbar halten. Ein paar Krähen stieben als dichte schwarze Wolke in den Himmel auf und ziehen über den feuchten Getreidefeldern ihre Kreise.
Ich schaue nicht zurück.
VIERTER TEIL
Meeresgrünes Licht
Oh, diese schöne Sonne hier mitten im Sommer. Das greift einem den Kopf an und ich zweifle gar nicht, dass man davon ganz närrisch wird. Da ich es aber schon vorher war , hab ich nur Genuss davon …
VINCENT VAN GOGH
an Émile Bernard, Arles, August 1888
Kartoffelesser
Les Baux, Oktober 1888
D
ie Schatten werden bereits länger, als ich in Les Baux, dem Dorf in den Alpillen, a n komme. Ich sehe es zum ersten Mal, als ich aus dem Kutschfenster schaue und mir stockt der Atem . Es thront hoch im sturmgepeitschten Gebirge auf Felsen aus Kalkstein, Wind und Wetter trotzend, zeitlos, gebr o chen und doch von ungeheurer Kraft. Eichen und Pinien klammern sich in die Ritzen zwischen dem Gestein, und über allem erstreckt sich ein tiefer, blauer Hi m mel.
Bereits kurz, nachdem die Droschke Roussillon verlassen hat, hat sich das Wetter gebessert. Es hat aufgehört zu schne i en, und nach etwa einer Stunde hat sogar die Sonne ihr Ve r steck hinter den Wolken verlassen. Die ganze Zeit über habe ich versucht, jeden Gedanken, der mir kam, zu versche u chen oder zumindest zu ignorieren.
Könnte ich doch auch die Leblosigkeit aus meinem Inneren vertreiben, die hin und wieder von einem Gefühl von Schuld abgelöst wird. Frédéric. Sein heilsamer Vers t and, rational und vernünftig, so ganz anders als meiner.
Ich habe mir von Anfang an nur etwas vorgemacht. Warum begreife ich das erst jetzt? Kein Mensch kann sich vollständig von anderen lossagen, es braucht immer andere, die einem he l fen und unterstützen. Ich bin einer fixen Idee von einem u n abhängigen Mädchen nachgejagt, und nun ist es zu spät. Frédéric ist fort.
Du stehst am Rand des Dorfes, blickst ins Tal hinunter und atmest Ei n samkeit. Vor wenigen Minuten bist du aus der Droschke gestiegen, hast dein spärliches Gepäck entgegengenommen, doch statt dir eine U n terkunft zu suchen, bist du hierhergekommen , wo ich auf dich gewa r tet habe. Nun stehst du hier, nur durch ein niedriges Mäuerchen vom A b grund getrennt, und bemerkst mich nicht. Vor deinen Augen schwebt ein dunkler, feuc h ter Schleier. Du bist schön, wie du so dastehst: verloren, traurig, gebr o chen. Und ich bin dafür verantwortlich.
Ich brauche dich. Es zieht mich zu dir, zu deiner Seele, doch ich weiß, du fürchtest dich vor mir, und wenn du es noch nicht tust, so wirst du dich doch bald von mir abwenden. Ich fürchte diesen Moment, denn dann wirst du nicht mehr mir
Weitere Kostenlose Bücher