Léonide (German Edition)
scharfen Kanten wahrnehmen, doch ich werde mich an den sachten Schmerz gewöhnen und darauf hoffen müssen, dass meine Bewegungen die Wunden nicht wieder aufreißen.
Und was tust du, wenn alles zerbricht, bis nur noch ein Gerüst aus morschem Holz zurückbleibt?
Erst, als das Lachen in der Stille verhallt, begreife ich, dass es meines ist, dass ich es ausgestoßen habe.
Ich zwinge mich , auf den Beinen zu bleiben. Eine unnatürl i che Brise kommt auf, streift meinen Nacken, reißt an meinen Haaren. Ich streiche sie zurück und glaube, den Druck zweier Hände an meiner Taille zu spüren.
Gott , flehe ich innerlich, ohne zu wissen, zu welchem ich spreche. Ich weiß, dass ich dich immer verleugnet habe, aber bitte mach, dass er es ist, ehe ich zerbreche oder mich in Luft auflöse, nur dieses eine Mal. Ich halte das nicht mehr aus.
Aber ich werde es aushalten. Muss es aushalten. Ich habe ihn fortgeschickt und darf nicht vergessen, dass ich es für ihn g e tan habe.
Als ich mich umdrehe, begegne ich einem vertrauten A u genpaar. Kluge, schöne Augen, die mich verwirren und die ich aus meinen Träumen kenne. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mir folgen würden, ich habe geglaubt, sie in Roussillon zurückgelassen zu haben. Etwas stimmt nicht, es ist verkehrt. Er darf nicht hier sein.
Spröde Lippen, die auf der überempfindlichen Haut des N a ckens verharren. Eine Hand, die über meine Wange streicht. Splitterndes Eis, ein Bersten, das in meinem Inneren wide r hallt.
Ich schreie, und die Augen lösen sich in einem Nebelschleier auf, der vom Wind davongetragen wird. Mein Schrei verklingt in der Dunkelheit. Ich warte, doch es bleibt still. Wie gelähmt greife ich nach meinem Gepäck und setze mich in Bewegung, ohne zurückzublicken.
Herbstlaub knistert unter meinen Füßen, während ich mich immer weiter vom Rand des Dorfes entferne. Die Angst steckt mir noch immer in allen Knochen, der Schrei hallt wie der Ruf eines Raubvogels in meinen Ohren wider.
Immer weiter. Mein Gepäck wiegt schwer in meinen Hä n den. Ich weiß nicht, was ich tue, warum ich mich vom Dorf entferne, anstatt nach einer Unterkunft zu suchen. Ich sollte umkehren. Ich kann nicht umkehren. Obwohl ich friere, bin ich der Kälte dankbar, die mich wachhält und meine tauben Beine immer weiter vorantreibt, obwohl ich müde und e r schöpft bin.
Ich erreiche einen Wald und gehe ohne nachzudenken we i ter. Mehr Blätter und trockene Zweige, die unter meinen F ü ßen brechen – ein vertrautes Geräusch, das wie knisterndes Kaminfeuer klingt. Hier, im Schutz der Bäume mit ihren aus dem Boden ragenden Wurzeln , ist der Wind weniger stark und kühl. Ich schmecke Feuchtigkeit, dann erst bemerke ich den Nebel, der über die Decke aus Laub kriecht und sich zwischen den Baumstämmen hindurchschlängelt. Der Wind rauscht in den Blättern. Wenn ich nach oben blicke, scheint sich die Welt schwankend aus ihren Angeln zu heben: trunkene Bäume und tanzende Blätter vor einem dunklen Himmel.
Dann fallen die ersten Regentropfen.
Ich arbeite mich langsam weiter durch das Unterholz, immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Zeit hat keine Bedeutung mehr, überall dieselben alten, flechtenbewachsenen Bäume, überall Feuchtigkeit und Stille, obwohl alles voller Geräusche ist: im Wind knarrende Äste, das Schlagen von Flügeln, Blä t ter, die vom Wind aufgewirbelt werden.
Der Regen wird stärker, rauscht in den Blätterkronen und vertreibt den Nebel. Tropfen um Tropfen durchnässt er meine Kleidung und mein Haar. Während er niederprasselt, erinnere ich mich an das, was ich verloren habe. Ich stolpere, falle zu Boden und bleibe neben meinem verstreuten Gepäck liegen. Bald ist die Rückseite meines Kleides vollkommen durchnässt. Tropfen zerplatzten in meinem Gesicht, machen mich frieren, doch es ist mir gleich.
Es ist noch nicht an der Zeit für dich, zu sterben.
Ich bleibe liegen und schließe die Augen. Merkwürdig, dass sich mein Körper so leicht und warm anfühlt, trotz des Regens und der Kälte. Es ist, als würde ich schw e ben, die Müdigkeit ist so angenehm, dass ich mich auf dem feuchten Laub z u sammenrolle und meine Hände über mein Gesicht ziehe.
Als ich aufwache, herrscht vollkommene Stille. Der Regen hat aufgehört , und um mich he r um ist es so dunkel, dass ich nicht weiß, wie ich jemals nach Les Baux zurückfinden soll. Ich hebe den Kopf, ein stechender Schmerz durchzuckt me i nen Nacken und mein Rückgrat. Schlafe ich? Habe ich
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