Léonide (German Edition)
g e schlafen? Ich glaube, jemanden nach mir rufen zu hören, ehe mir klar wird, dass es in Les Baux niemanden gibt, der meinen Namen kennt und nach mir suchen könnte. Es ist nur der Wind, der gedämpft in den Bau m kronen und durch das nasse Dickicht rauscht.
»Ist hier jemand?« Ich versuche, meine Beine zum Aufstehen zu zwingen, doch sie knicken ein, sodass ich ins feuchte Far n gestrüpp zurücksinke. Die Gedanken in meinem Kopf bre n nen, verbrennen alles zu Asche. Ich klappere mit den Zähnen. Als ich nach meiner Stirn taste, ist sie fiebrig.
Léo.
Ich weiß, dass ich halluziniere, als Willem zwischen den feuchten, efeubewachsenen Baumstämmen hervortritt – ich habe nicht vergessen, dass er tot ist. Sein zweites Auge ist u n versehrt, und er wirkt so sorglos und jungenhaft wie früher. Ich strecke die Hände nach ihm aus, will ihn halten und nie wieder loslassen, selbst wenn das bedeutet, dass ich für immer in diesem feuchten, dunklen Dickicht bleiben muss.
Als Willem neben mich tritt, erkenne ich um ihn herum wi n zige Lichtpunkte, die Glühwürmchen ähneln. Wieder kommt Nebel auf, wieder kriecht er über den Waldboden und zieht sich an den Baumstämmen höher. Rote Augenpaare, die mich beobachten inmitten des ächzenden Waldes. Erneut versuche ich, mich aus dem nassen Laub zu stemmen, erfolglos.
Der Wald ist jetzt voller Lichter: rote, weiße, gelbe. Sie schweben wie Papierlampions über dem Boden, flackernde Fackeln, die das Dunkel durchdringen. Zusammen mit dem leuchtenden Nebel bilden sie eine unverkennbare Spur, die aus dem Wald hinausführt .
Komm, Léo. Du musst aufstehen.
Willem ergreift meine Hände und zieht mich hoch. Seine Haut fühlt sich nicht warm an wie früher, sondern wie Rauch oder kühler Wasserdampf, der sich verfestigt hat. Seine Finger streifen meine Wange wie Luft, von Flügeln aufgewirbelt. Meine Beine zittern, doch seine Berührung gibt mir neuen Mut. Er hält mich fest, bis ich das Gleichgewicht wiederg e funden habe und ihn genauer betrachten kann.
Die Sorgenfalten, die im Leben Willems Gesicht gezeichnet haben, sind verschwunden. Auf seinen Lippen liegt ein mildes Lächeln, das nicht zu dem Willem passt, den ich als meinen Bruder in Erinnerung habe. Seine Kleidung wirkt alt, ung e ordnet, als wäre er seit Wochen darin unterwegs. Auf den Ä r melaufschlägen kleben getrocknete Flecken von Schlamm, Staub, rotem Sand und Blut. An mehreren Stellen sind Hose und Hemd zerrissen und nur teilweise geflickt. Unter dem Stoff erkenne ich tiefe Schnitte und Kratzer, g e nauso wie auf seinen nackten Füßen, die zudem noch mit Schrammen und Blasen übersät sind.
Und dennoch: Er wirkt ruhig und ausgeglichen, als hä t te er mit seinem Leben und dem Vergangenen abgeschlossen – als hätte er das Schlimme ebenso wie das Schöne a k zeptiert und Frieden mit sich geschlossen.
Folge den Lichtern, Léo. Willems Finger lösen sich langsam auf, dann verschwimmt seine Gestalt wie ein Aquarell im Regen. Eine leichte, unnatürliche Brise und der Nebel, der sich lichtet.
Er ist fort.
Benommen warte ich einen Augenblick, ehe ich mein ve r streutes Gepäck zusammenraffe und mich langsam auf den Weg zurück ins Dorf mache. Meine Beine und meine Geda n ken sind schwer wie Blei. Ich erlaube mir keine Pause; ich weiß, wenn ich es tue, werde ich nicht mehr weitergehen und sterben, ganz allein, hier, am Rande von Les Baux .
Ich folge den Lichtern, die Willem für mich zurückgelassen hat. Wie Irrlichter, nur, dass diese mich hoffentlich nicht in die Irre führen. Mal leuchten sie grünlich, dann wieder bläulich, und ich fühle mich an die Geschichten über das Nordlicht e r innert, das sich im frostigen Winter auf der Schneedecke spi e gelt. Die Nordmänner haben in den Pola r lichtern ein Zeichen dafür gesehen, dass irgendwo auf der Welt eine große Schlacht geschlagen worden war. Wenn die Walküren nach dem Kampf über den Himmel ritten, spiegelte sich das Mondlicht in ihren glänzenden, schuppigen Rüstungen und wurde in allen erden k lichen Farben an den Himmel zurückgeworfen.
Ich weiß nicht, wie lange ich über Wurzeln stolpere und den Lichtern hinterherjage, bis sich der Wald vor meinen A u gen lichtet und das Dorf als schwarzer Umriss vor mir au f taucht. Die Pflastersteine glänzen feucht vor Regen. Hinter mir ve r blassen und zerstieben die Lichter, die mir den Weg gewiesen haben, zu einem Funkenregen.
Ein Summen erfüllt meine Ohren und teilt sich in mehrere Kontrapunkte. Ich
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