Léonide (German Edition)
Bruders.
Obwohl ich den Gedanken kaum ertragen kann, muss ich mir eingestehen, dass Frédéric r echt hat. Es gibt keine bessere Erklärung, weder aus seiner noch aus meiner Perspe k tive. Es ergibt ganz einfach Sinn.
Und doch … Bin ich wirklich dem Wahnsinn verfallen? Es hat Zeiten gegeben, da ich das geglaubt habe, aber nun … ? Die Erklärung scheint so einfach, so vernünftig. Zu vernünftig. Vielleicht ist aber auch gerade das der Beweis dafür, dass ich meinen Halt in der Realität verloren habe. Ich kann meinen eigenen Gedankengängen nicht mehr folgen. Ist Costantini mehr als ein Mensch? Was haben die Geschichten über seine alchimistischen Experimente an Lebenden zu bedeuten? Was ist mit dem Pakt? All das kann doch nicht nur meinem Unte r bewusstsein entspringen – oder doch?
Irgendetwas in mir zerbirst, ein nur allzu vertrautes Gefühl. Glassplitter, die auf mich herabregnen, sich wie gierige, kleine Zähne in mein Fleisch bohren. Ich bin mir selbst fremd g e worden.
»Ich könnte dir helfen«, sagt Frédéric wie aus weiter Ferne. »Allerdings nur, wenn du dir helfen lässt.«
Ich schlucke eine Welle des Schmerzes hinunter, die gegen die Innenseite meiner Kehle brandet und nehme einen Schluck heißen Kaffee. »Wie stellst du dir das vor?«
Frédéric drückt seine Zigarette aus, den Blick unbeirrbar auf mich gerichtet. »Ich würde dir zeigen, dass die Dinge, die du siehst, keine Gefahr für dich darstellen. Dass du dich aus Costantinis Begriff befreien kannst. Ich würde dich nicht a l leinlassen.«
»Wenn ich nur daran glauben könnte, dass man mir helfen kann. Ich tu’s nicht, Frédéric … Ich tu’s einfach nicht.«
Das solltest du auch nicht. Niemand kann dir helfen, denn ich werde dir folgen, wohin auch immer du deine Schritte wendest, bis ans Ende und darüber hinaus.
»Lass es mich wenigstens versuchen«, sagt Frédéric und beugt sich zu mir vor. »Lass es zu. Wehr dich nicht länger g e gen mich.« Er lässt sich in seinen Stuhl zurücksinken und nimmt einen Schluck Absinth. Das weiße Licht der Laternen bricht sich in den Facetten des Absinthglases, die roten Türen und gelben Wände spiegeln sich auf der glatt geschliffenen Oberfläche.
Langsam kommen meine Gedanken zur Ruhe. Aus einem unerfindlichen Grund hämmert mir das Herz im Hals. Als ich Frédérics Blick suche, sehe ich, dass er mich beobachtet und dabei traurig lächelt.
»Du hast wunderschöne Augen«, sagt er.
Die Worte berühren etwas in mir, rütteln mich wach, lassen eine Ahnung in mir erwachsen. Wunderschöne Augen. Augen. Costantini … Als ich erneut in Frédérics lächelndes Gesicht blicke, ist da ein Ausdruck, den ich nicht von ihm kenne. Kühl, beinahe grausam. Könnte es sein … ? Frédéric … Costa n tini?
Ich erinnere mich, wie Frédéric in seinem Bett in Roussillon gelegen hat und plötzlich Costantini an seine Stelle getreten ist. Jung und wunderschön hat er ausgesehen, mit weißblo n dem Haar und stillen Augen, die Haut weiß und makellos. Dann teilten sich seine Lippen zu einem beunruhigenden L ä cheln – jenem Lächeln, das nun Frédérics Lippen u m spielt.
Du hast einen schönen Körper, Léonide. Er wird mir vielleicht noch von Nutzen sein, dieser Körper, dein Fleisch, das kochende Blut, Arme und Beine, und dann die Augen … Du hast wunderschöne grüne A u gen .
Ich senke die Lider. Meine Finger umklammern die Tisc h platte, bis sie weiß hervortreten. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, bis sich mein Herzklopfen beruhigt hat. Als ich den Blick wieder hebe, blicke ich in ein Paar vertrauter, gle t scherblauer Augen.
Seine Haut ist nicht mehr weiß und makellos, sondern wäc h sern und runzlig. In der Luft liegt der Geruch nach Alter und Staub.
Erkennen. Dann ein Schrei, hoch und zitternd.
Ich springe auf und mein Stuhl fällt mit einem metallischen Geräusch nach hinten . Der Tisch schwankt, Kaffee und A b sinth ergießen sich über das filigrane, schmiedeeiserne Muster. Ich spüre die glühenden Blicke der anderen Gäste im Rücken und bleibe reglos stehen. Hoffe, dass ich all das nur t räume oder es zumindest schnell vorbeigeht.
Da bewegt sich Costantinis Gesicht – irgendetwas unter se i ner Haut, etwas, das nach einem Weg nach draußen sucht und sich von innen gegen seine Haut presst, um endlich durch die Oberfläche zu stoßen. Costantini lächelt. Seine Haut spannt sich, um im nächsten Augenblick wieder Falten zu werfen wie ein Laken, das nachlässig über ein Bett
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