Léonide (German Edition)
gebreitet wird. Seine Augen wirken trotz ihrer verstörenden Farbe glasig und leer, als läge eine dünne, weiße Schicht über der Iris. Als seine Li p pen mit einem papiernen Geräusch auseinanderreißen, quillt eine Wolke übel riechenden Atems aus seinem Mund, seine Zunge gleitet schwarz wie ein Käfer über seine Lippen. Dann brechen Fliegen daraus hervor, so viele, dass alles um mich herum innerhalb von Sekunden mit einer dun k len, wogenden Masse bedeckt ist. Auch aus seinen Ärmelau f schlägen quillen sie hervor und aus dem Kragen seines schmutzigen Hemdes, zwischen den Falten seiner Haut und aus seinen Ohren.
Dann verwandelt er sich.
Seine Haut wird straffer und dunkler, das Wächserne ve r schwindet aus seinem Blick, sein Kopf sinkt fast unmerklich einige Zentimeter hinab. Dann deutlichere Veränderungen: Augen, die einen blaugrünen Ton annehmen, weißes Haar, das im Licht der Gaslaternen feuerrot leuchtet. Noch immer schmale, nun jedoch nicht länger dünne Lippen. Ein Lächeln, dem nichts Boshaftes oder Verschlagenes anhaftet.
Ich strecke die Hand aus, um Willems wettergegerbtes G e sicht zu berühren, doch als meine Finger sich darauf zubew e gen, verschwindet es. Stattdessen schaue ich in ein Paar dun k ler Augen, umrandet von schwarzen Wimpern, dunkle Auge n brauen und Haare, die Haut wie Milch und Blut, die Lippen breit und rotbraun. Ich kenne das Gesicht so gut, doch in di e sem Augenblick ist es mir fremd. Kein Zeichen der Erschö p fung oder Trauer, nur eine glatte, makellose Obe r fläche, keine gerunzelte Stirn, keine dunklen Ringe unter den Augen, kein lichtloser Ausdruck in der abgründigen Iris. Es ist, als hätte sein Maler es an Tiefe mangeln lassen.
Mein Gesicht. Meines und doch nicht, denn die junge Frau, der ich mich gegenübersehe, ist mir fremd geworden. Sie ist die, die irgendwo in den Tiefen meiner Seele verschüttet liegt – die, die noch nicht weiß, dass ihr Bruder sterben wird. Mit se i nem Tod hat auch sie ihren letzten Atemzug getan. Sie sieht … glücklich aus, ein Leuchten in ihren Augen und auf den en t spannten Zügen.
Ihr Blick erschüttert mich, als wäre der Boden unter meinen Füßen ins Schwanken geraten, als hätte eine meterhohe Me e reswelle mich mitgerissen, als liefe ich durch ein Feuer, das an mir leckt, bis meine Haut Blasen wirft und ich sowohl äuße r lich als auch innerlich in Brand stehe.
Augen, Léonide, Augen!
Da ist er wieder, Costantini. Er selbst, nicht nur seine Sti m me. Sie brandet in dunklen Wellen über mich hinweg und bricht sich in meinem Inneren, reißt alles mit sich: Erinneru n gen und Verdrängtes, schlechte Gefühle wie Neid und Hass.
Und ich sah: Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und si e ben Köpfen. Auf seinen Hörnern trug es zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung waren. Das Tier, das ich sah, glich einem Panther; seine Füße waren wie die Tatzen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen. Und der Drache hat ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht. Einer seiner Köpfe sah aus wie tödlich verwundet; aber die tödliche Wunde wurde g e heilt. Und die ganze Erde sah dem Tier staunend nach.
Aus weiter Ferne ein Schrei und Stimmengewirr, das über mich hinwegspült.
Meine Stimme: »Er ist wieder da. Ich fühle es, er ist wieder da.«
Auf meinem Arm spüre ich Hände, warme, langfingrige Hände, die ich aus Angst, Costantini vor mir zu haben, von mir stoße. Ich kämpfe mit aller Macht gegen die Stimmen, die mich zu überrollen drohen und die Hände, die von allen Seiten nach mir greifen und mich zu packen versuchen.
»Ah«, mache ich, »Er – wieder da! So viele Körper, saftige, lebendige Körper, Arme und Beine und Haar und Augen, und jedes ein Leben! Er braucht mehr … will mehr!«
Obwohl die Worte über meine Zunge rollen, ist es nicht meine Stimme, die spricht. Es sind Costantini und mein Br u der, drohend, lachend. Dann wunderbare Bilder voller Farben und Licht: geschwungene Linien und kräftige Striche, dynam i sche Bewegungen und dicke Farbe auf grober Leinwand. Das Echo eines tiefen Lachens, das meinen Körper erzittern lässt, sich in den Lichtern des Cafés bricht, schwer und zähflüssig zu Boden tropft.
Ich stolpere zurück und falle über kaltes Metall. Hände re i ßen mich an sich und flößen mir eine Flüssigkeit ein, die me i ne Zunge betäubt und meine Gedanken träge werden lässt. Nebel, der mich zärtlich umschlingt.
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