Leopard
Westen der Stadt kultivierten, vorrücken. Sie schaute auf die Uhr. Es vergingen vierzig Sekunden, bis sich Milanos Funkgerät knisternd meldete: »Alle am Platz.«
Der Fahrer ließ die Kupplung kommen, und sie fuhren langsam zum Haus vor.
Tony Leikes noch relativ neuer niedriger hölzerner Designerbau war gelb und eher protzig als architektonisch interessant, irgendwo zwischen Bauhaus und Holzkiste, tippte Kaja.
Der Wagen stellte sich quer vor die beiden Garagentore am Ende der gekiesten Einfahrt, die zur Haustür führte. Bei einem Geiseldrama vor ein paar Jahren in Vestfold, bei der das Einsatzkommando ein Haus umstellt hatte, war den Geiselnehmern die Flucht gelungen, indem sie sich in die Garage geschlichen hatten, die mit dem Haus verbunden war, und mit dem Auto des Opfers einfach an den schwerbewaffneten Polizisten vorbeigerollt waren, die ihnen entgeistert nachgeschaut hatten.
»Bleib hinter uns und komm mit«, sagte Harry zu Kaja. »Beim nächsten Mal bist du an der Reihe.«
Sie stiegen aus. Harry ging auf das Haus zu, hinter ihm, leicht versetzt, die beiden Kommandopolizisten, so dass sie ein Dreieck bildeten. An Harrys Stimme erkannte Kaja, dass sein Puls schneller ging, ebenso an seiner Körpersprache, dem angespannten Nacken und den übertrieben lässigen Bewegungen.
Sie gingen die Treppe hoch, und Harry klingelte zweimal. Die anderen beiden hatten sich, den Rücken an der Wand, neben der Tür aufgebaut.
Kaja zählte. Harry hatte ihr im Auto die Regeln des FBI erklärt: Man musste klingeln oder klopfen, »Polizei« und »Bitte öffnen Sie die Tür« rufen und dann bis zehn zählen, bevor man sich selbst Zutritt verschaffen durfte. Bei der norwegischen Polizei gab es keine derart konkreten Vorschriften, was aber nicht bedeutete, dass es keine Regeln gab.
An diesem Vormittag im Holmenveien kam allerdings keine dieser Regeln zur Anwendung.
Die Tür wurde aufgerissen, und Kaja trat automatisch einen Schritt nach hinten, als die Rastamütze in der Tür auftauchte, Harrys Schulter sich bewegte und sie das Klatschen einer Faust hörte, die auf Fleisch traf.
KAPITEL 42
Beavis
D ie Bewegung war ein Reflex, Harry konnte sie beim besten Willen nicht unterdrücken.
Als Kriminaltechniker Bjørn Holms Mondgesicht in Tony Leikes Türrahmen auftauchte und Harry hinter ihm die anderen Techniker mitten bei der Hausdurchsuchung entdeckte und ihm im Bruchteil einer Sekunde klarwurde, was passiert war, sah er rot.
Der Hieb pflanzte sich durch seinen Arm bis hoch in die Schulter fort, und seine Knöchel schmerzten. Vor ihm, am Boden des Hauseingangs, kniete Bjørn Holm. Blut quoll aus seiner Nase, rann über seine Lippen zum Kinn und tropfte von dort herunter.
Die beiden Beamten des Einsatzkommandos sprangen mit einem Satz vor und richteten ihre Waffen auf Holm, sichtlich verunsichert. Vermutlich kannten sie seine Rastamütze und ahnten bereits, dass auch die anderen weißgekleideten Figuren Kriminaltechniker waren, die das Haus durchsuchten.
»Geben Sie Bescheid, dass die Situation unter Kontrolle ist«, sagte Harry zu dem Mann mit der Drei auf der Brust. »Und dass der Verdächtige festgenommen wurde. Von Mikael Bellman.«
Harry saß zusammengesunken auf dem Stuhl, die Beine ausgestreckt, die Füße unter Gunnar Hagens Schreibtisch.
»Es ist ganz simpel, Chef. Bellman hat irgendwie spitzgekriegt, dass wir kurz vor der Festnahme von Tony Leike standen. Scheiße, die haben die Staatsanwaltschaft genau vor der Nase hocken, auf der anderen Straßenseite, im selben Gebäude wie die Kriminaltechnik. Er brauchte bloß kurz über die Straße laufen, um sich einen Haftbefehl von einem der Staatsanwälte zu besorgen, was wahrscheinlich nicht länger als zwei Minuten in Anspruch genommen hat, während ich hier zwei verfickte Stunden warten musste!«
»Du brauchst nicht zu schreien«, bemerkte Hagen.
» Du brauchst das vielleicht nicht, aber ich !«, rief Harry und schlug auf die Armlehne. »Scheiße! Scheiße!«
»Sei froh, dass Holm von einer Anzeige absieht. Wieso hast du ihn eigentlich geschlagen? Ist er das Leck?«
»Gibt’s sonst noch was, Chef?«
Hagen sah seinen Hauptkommissar an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nimm dir ein paar Tage frei, Harry.«
Truls Berntsen hatte in seiner Jugend viele Spitznamen gehabt. Die meisten waren mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Aber nach der weiterführenden Schule, Anfang der Neunziger, hatte sich ein Name festgesetzt und bis heute gehalten:
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