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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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diesen Anker.«
    Harry starrte auf seine eigenen gefalteten Hände. »Seine Schmer zen …«
    »Physische Schmerzen sind nicht das Schlimmste für einen Menschen«, sagte Altman. »Glauben Sie mir, ich sehe das jeden Tag. Auch nicht der Tod oder die Furcht vor dem Tod.«
    »Was dann?«
    »Die Demütigung. Dass einem Ehre und Würde genommen werden. Man wird bloßgestellt, aus dem Rudel ausgestoßen. Das ist die schlimmste Strafe, lebendig begraben zu werden. Der einzige Trost ist, dass der Betreffende recht schnell zugrunde geht.«
    »Hm.« Harry sah Altman lange an. »Haben Sie in dem Schrank vielleicht etwas, das die Stimmung ein wenig aufhellen könnte?«

KAPITEL 45
     
    Verhör
     
    M ikael Bellman hatte wieder vom freien Fall geträumt. Einem Alleingang am El Chorro. Er hatte den Halt verloren, die Felswand war vor seinen Augen vorbeigerast und der Boden immer schneller näher gekommen. Dann hatte der Wecker geklingelt. Gerade noch rechtzeitig.
    Er wischte sich das Eigelb aus dem Mundwinkel und sah zu Ulla auf, die hinter ihm stand und ihm Kaffee eingoss. Sie hatte mit der Zeit gelernt, wann er mit dem Essen fertig war und dass er dann und keine Sekunde eher seinen Kaffee wollte, kochend heiß und in der blauen Tasse. Aber das war nur einer der Gründe, weshalb er sie so schätzte. Ein anderer war, dass sie sich so gut in Form hielt, dass sie bei den Empfängen, zu denen sie immer häufiger eingeladen wurden, noch immer die Blicke auf sich zog. Ulla war immerhin einmal die unbestrittene Schönheitskönigin von Manglerud gewesen, damals, als er sie kennengelernt hatte, er achtzehn, sie neunzehn. Und ein weiterer Grund war, dass Ulla ohne Protest ihren eigenen Traum von einer Ausbildung beiseitegestellt hatte, damit er sich voll seiner Arbeit widmen konnte. Aber die drei wichtigsten Gründe saßen am Tisch und stritten sich darüber, wer die Plastikfigur aus der Cornflakes-Packung bekommen sollte und wer heute auf dem Weg zur Schule im Auto vorne sitzen durfte. Zwei Mädchen und ein Junge. Drei perfekte Gründe, um seine Frau und die Kompatibilität ihrer Gene mit den seinen wertzuschätzen.
    »Wird es heute Abend wieder spät?«, fragte sie und strich ihm beiläufig über die Haare. Er wusste, dass sie seine Haare liebte.
    »Es kann lange Verhöre geben«, sagte er. »Wir beginnen heute mit dem Hauptverdächtigen.« Er wusste, dass die Zeitungen im Laufe des Tages veröffentlichen würden, dass der Festgenommene Tony Leike war. Trotzdem hielt er sich zu Hause an die Schweigepflicht. Womit er im Übrigen gerne seine Überstunden rechtfertigte: »Darüber kann ich nicht sprechen, Liebling.«
    »Warum habt ihr ihn nicht schon gestern verhört?«, fragte sie, während sie die Pausenbrote der Kinder einpackte.
    »Wir mussten erst noch ein paar Fakten zusammentragen. Und die Durchsuchung seines Hauses beenden.«
    »Habt ihr was gefunden?«
    »Ich darf doch nicht so ins Detail gehen, Schatz«, antwortete er und warf ihr seinen bedauernden Schweigepflichtblick zu. Um nicht erklären zu müssen, dass sie ihren Finger mitten in die Wunde gelegt hatte. Bjørn Holm und die anderen Kriminaltechniker hatten bei der Durchsuchung nichts gefunden, das unmittelbar mit den Morden in Verbindung gebracht werden konnte. Aber das war vorläufig zum Glück von untergeordneter Bedeutung.
    »Es macht nichts, wenn er über Nacht in der Untersuchungshaft brütet«, sagte Bellman. »Vielleicht ist er dann aufgeschlossener, wenn wir mit unserer Befragung beginnen. Der Anfang eines Verhörs ist ja häufig entscheidend.«
    »Ja?«, entgegnete sie, und ihm entging nicht, dass sie versuchte, interessiert zu wirken.
    »Ich muss jetzt los.« Er stand auf und küsste sie auf die Wange. Doch, er schätzte sie wirklich. Der Gedanke, sie und die Kinder zu verlassen und damit das Fundament und die Infrastruktur, die seine Karriere, seinen Klassensprung, erst möglich gemacht hatten, aufzugeben war völlig absurd. Dem Impuls seines Herzens zu folgen und alles für eine Liebelei – oder wie immer man es nennen wollte – über Bord zu werfen war utopisch, nur ein Traum, den er mit Kaja als Zuhörerin teilen konnte. Wobei Mikael Bellman – wenn er schon träumte – ganz andere Ziele im Kopf hatte.
    Er warf einen Blick in den Spiegel, inspizierte seine Schneidezähne und überprüfte, dass der Seidenschlips richtig saß. Die Presse würde mit Sicherheit wieder vor dem Eingang des Präsidiums stehen.
    Wie lange würde ihm Kaja noch erhalten bleiben?

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