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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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wenn ich ihr süßes Geplapper nicht mehr im Hause hören sollte.«
    Der Fremde sah ihn scharf an.
    »Begreifen Sie doch, mein Herr, man kann sein Kind nicht so ohne weiteres einem Durchreisenden mitgeben. Habe ich nicht recht? Und außerdem, Sie sind reich, es wäre ja ein Glück für die Kleine, aber man müßte es doch sicher wissen. Wenn wir annehmen, daß ich sie weggebe und das Opfer bringe, gut, aber ich muß doch wissen, wohin sie kommt, ich kann sie nicht aus den Augen verlieren. Von Zeit zu Zeit muß ich sie doch besuchen können, mich überzeugen, daß ihr guter Pflegevater auch auf sie aufpaßt. Es gibt Dinge, die man nicht machen kann. Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Wenn Sie sie wegführen würden, müßte ich immer denken: was mag wohl aus unserer kleinen Lerche geworden sein? Man müßte doch irgendwas Schriftliches sehen, einen Zipfel von einem Paß oder so etwas.«
    Der Fremde hatte Thénardier nicht aus den Augen gelassen.
    »Herr Wirt«, sagte er, »wenn man fünf Meilen weit aus Paris herausfährt, nimmt man keinen Paß mit. Wenn ich Cosette nehme, so nehme ich sie eben, und Schluß. Sie brauchen dazu weder meinen Namen zu wissen noch meinen Aufenthaltsort. Mein Wunsch ist, daß sie Sie nie wiedersieht. Ich schneide das Band durch, das sie an Sie bindet. Paßt es Ihnen? Ja oder nein?«
    Wie die Dämonen und Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines übergeordneten Gottes erkennen, so begriff auch Thénardier, daß er es hier mit einem robusten Willen zu tun hatte. Schon gestern abend hatte er ihn beobachtet, keine Geste, keine Bewegung des Mannes im gelben Rock war ihm entgangen. Bevor der Unbekannte so deutlich seine Anteilnahme an Cosette bekundete, hatte Thénardier etwas geahnt. Mit Überraschung hatte er bemerkt, daß die Blicke des Alten immer wieder zu dem Kinde zurückkehrten. Wer war dieser Mensch? Warum kleidete er sich so schäbig, wenn er über so beträchtliche Geldmittel verfügte! Der Vater Cosettes konnte er nicht sein. Der Großvater? Warum hatte er sich dann nicht sofort vorgestellt? Wer ein Recht hat, macht es geltend. Dieser Mensch hatte offensichtlich kein Anrecht auf Cosette.
    Thénardier verlor sich in vagen Vermutungen. Als er aber begriff, daß dieser Mann ein Interesse daran hatte, ungenannt zu bleiben, fühlte er sich stark; und als dann der Fremde so klar und unmißverständlicherklärte, was er zu tun gedenke, fühlte er sich wieder schwach. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Seine Vermutungen waren entkräftet. Er dachte eine Sekunde nach. Thénardier war einer von jenen Menschen, die eine Situation sofort überschauen. Dies war, dachte er, der Augenblick, um rasch vorzugehen. Wie alle großen Feldherren, demaskierte er im entscheidenden Augenblick seine Batterie.
    »Fünfzehnhundert Franken«, sagte er.
    Der Fremde zog ein altes Portefeuille aus schwarzem Leder aus der Tasche, dem er drei Banknoten entnahm. Er stützte seinen Daumen auf die Scheine und sagte:
    »Jetzt lassen Sie Cosette kommen.«
    Einen Augenblick später trat sie in die Gaststube. Der Fremde schnürte sein Bündel auf und entnahm ihm ein Wollkleid, eine Schürze, ein Jäckchen, einen Unterrock, Wollstrümpfe und Schuhe; eine vollständige Bekleidung für ein siebenjähriges Mädchen. Ganz in Schwarz.
    »Nimm das, Kind, und zieh dich rasch an.«
    Der Morgen graute bereits, als die Einwohner von Montfermeil, die eben ihre Türen öffneten, auf der Straße nach Paris einen armgekleideten Mann ausschreiten sahen, der ein kleines, in Trauer gekleidetes Mädchen an der Hand führte.
    Da Cosette nicht mehr ihre Lumpen trug, erkannten viele sie nicht.
Oft verschlechtert sich, wer sich zu verbessern sucht
    Gewohnheitsmäßig hatte die Thénardier ihrem Gatten freie Hand gelassen. Sie war auf große Dinge gefaßt. Als der Fremde mit Cosette fortgegangen war, ließ Thénardier eine gute Viertelstunde verstreichen, bevor er sie beiseite nahm und ihr die fünfzehnhundert Franken zeigte.
    »Das ist alles?« fragte sie.
    Seit ihrer Hochzeit war es das erstemal, daß sie eine Handlung ihres Herrn zu kritisieren wagte.
    Der Schlag traf.
    »Du hast recht«, sagte er, »ich bin ein Idiot. Gib mir meinen Hut.«
    Er faltete die drei Banknoten zusammen, schob sie in die Tascheund eilte davon; aber er lief zunächst in der falschen Richtung, nach rechts. Einige Nachbarn, bei denen er sich erkundigte, brachten ihn auf die richtige Spur, denn die Lerche und ihr Begleiter waren auf dem Wege nach Livry

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