Lesebuch für Katzenfreunde
verrottendes Fleisch und Leichen und welke Blumen und entlaubte Bäume…«
»Die Natur erschafft sich immer wieder neu«, sagte sie, »wir gehen durch sie hindurch, aber wir bringen neue Katzen zur Welt. Die Blume wird schlaff und welkt, der Baum verliert die Blätter, aber in einem neuen Jahr gibt es neue Blätter, neue Gräser, neue Kätzchen. Die alten gehen dahin. Das mußt du doch wissen.«
»Nein! Nein! Nein!«
Ich war tief erschüttert, daß jemand solcher Ansicht sein konnte, und überzeugt, daß es nicht stimmte. Es mußte eine bösartige menschliche Idee sein, die meine arme Liebste in dem Haus aufgeschnappt hatte, in dem sie lebte. Sie sagte, es sei gerade die Kürze des Lebens, die dem Verliebtsein so viel Süße gäbe. Aber ich glaubte noch immer, daß wir bei einiger Vorsicht die Große Stille vermeiden könnten.
Nachdem sie mir ihre Vorstellung mitgeteilt hatte, daß wir alle sterben müßten, überkam mich schreckliche Angst und tiefe Traurigkeit. Es war einfach unerträglich, daß meine Geliebte so dachte. Und doch hätte ich ihr an diesem dunklen Abend, an dem ich mich trostsuchend an sie klammerte, beinahe geglaubt. Die Große Mutter stand am Himmel, doch statt unsere Geschickte zu regieren und uns zu behüten, schien sie gleichgültig auf uns herabzulächeln. Und dann war es, als gäbe es nur noch zwei Wesen, umringt von einem großen schwarzen Nichts: die Finsternis der Nacht war die einzige Realität, und das einzige Licht, das sie je durchdringen würde, war nicht das Strahlen der Großen Mutter, sondern die Liebe unserer Herzen, und die einzige Waffe, die wir gegen die Große Stille besaßen, war die Gewißheit, daß auch wir uns erneuern würden, wie das Gras, die Bäume und die Blumen.
Du wirst gehört haben, daß die Menschen hier straßauf, straßab meine Liebste als ›Tammy‹ bezeichneten, so wie sie mir den lächerlichen Namen ›Pufftail‹ gaben. Aber ich brauche wohl kaum zu betonen, daß wir füreinander keine Namen hatten. Wir brauchten keine. Sie war und ist und wird immer nur sie sein. Es wird nie eine andere sie auf der Welt geben. Und ich glaube, ich war der einzige er in ihrem Herzen. Ich sehnte mich danach, daß sie mit mir auf die Straße zöge und ganz unabhängig von der idiotischen menschlichen Rasse mit mir lebte. Und ich glaube, schließlich hat sie diese Sehnsucht geteilt. Das glaube ich im Ernst. Aber sie wollte auch – tief in ihrem Inneren – Kätzchen bekommen. Als ich erfuhr, daß Kätzchen unterwegs seien, wurde mir klar, daß unsere Flucht aufgeschoben werden mußte, bis sie geboren waren. Meine Liebste wollte sie an einem sicheren Ort werfen, an dem für sie gesorgt würde, und verließ sich darauf, daß ihre menschlichen Freunde das taten.
»Hab noch ein bißchen Geduld«, sagte sie. »Wenn sie erst geboren und entwöhnt sind und für sich selbst sorgen, können wir zwei miteinander fortgehen und die Straße wählen.«
»Für immer und alle Zeit zusammenbleiben?« fragte ich.
»Und für immer und alle Zeit zusammenbleiben.«
»Und kein Wort mehr darüber, daß jeder sterben muß?«
Sie schlug mir sanft mit der Pfote auf die Nase.
»Du mein armes Dummerchen, du«, sagte sie.
Ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, daß ich der Vater von über hundert Katzen geworden bin, und wenn ich auch manchmal stolz auf meine Nachkommenschaft war, bei dem Gedanken, daß sie existierte, empfand ich kein sonderliches Interesse. Aber ich war äußerst besorgt um eine ungefährdete Niederkunft meiner Liebsten. Außerdem waren mir zum ersten Mal in meinem Leben auch die Jungen selbst nicht gleichgültig, mir war zum ersten Mal klar, daß diese Wesen ein Resultat unserer Liebe sein würden.
Ich begann an meine Mutter zu denken, an die wundervollen Tage, ehe irgendein menschliches Wesen in unsere Kinderstube eindrang und nur sie und meine Geschwister und ich uns in der Wärme aneinanderschmiegten. Einmal noch schien es in der für mich öden, feindseligen Welt möglich, etwas von dieser Wärme, dieser Liebe wiederzuerschaffen.
»Ich bin immer noch nicht sicher, ob du in dem Haus dort ungefährdet bist«, sagte ich meiner Liebsten eines Tages.
»Ich könnte nirgends sicherer sein. Also wirklich, manchmal bist du sonderbar.«
»Es ist nur natürlich, daß ich mir Sorgen mache.«
»Ich habe dir doch schon gesagt, alles wird gut.«
Diese Unterhaltung fand auf dem gleichen Schuppendach statt, auf dem wir unser erstes mitternächtliches Entenmahl gehalten
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