Lesereise - Afrika
hinein. Das zweite Glas kommt auf mein geschundenes Gesicht. Zur Desinfizierung. Laut scharia kann der Genuss von Alkohol vierzig Schläge auf den Nackten kosten. Ich frage vorsichtshalber, Job winkt ab: »No police here, only brothers and sisters.« Und bald treffen die Brüder und Schwestern ein und trinken und lachen und vergessen ihr hundsgemein schweres Leben. In solchen Augenblicken liebe ich Afrika noch inniger. Weil es auf seiner Freude, seiner Wärme, seiner Leichtigkeit besteht.
Am Freitagnachmittag, dem Feiertag, mache ich mich auf den weiten Weg zur Hamed el-Nil-Moschee. Hier treten eine Stunde vor Sonnenuntergang die »whirling dervishes« auf, drehen sich im Kreis, wollen auf ihre Weise Dank sagen an einen Scheich, der vor über hundert Jahren der Begründer ihrer tariqa , ihrer Schule, war. Und als Heiliger gilt, der Wunder erledigte. Wie auch immer, sich drehen, sich spüren, sich high fühlen, das ist nicht der schlechteste Ausdruck von Verehrung. Eingedenk des weltweit faden Gemurmels in Gotteshäusern, scheint die Idee, ekstatisch den Leib zu wirbeln, um in spirituelle Höhe abzuheben, allemal sinnlicher. Wie sagte es Nietzsche: »Ich würde nur einen Gott anbeten, der tanzen kann.«
Etwas Überraschendes passiert, ein Mann wird auf einem Rollstuhl hereingeschoben, mitten unter die Tänzer. Die Ekstase der anderen soll seine Querschnittslähmung heilen. Und sie legen zu, steigern die Geschwindigkeit, ihre weiten galabeyas fliegen über den Sand. Das gibt ein ergreifendes Bild vor der vergehenden Wüstensonne. Aber das Wunder findet heute nicht statt. Und doch, wie verwunderlich, mit einem seligen Gesicht rollt der Lahme davon. Einmal – denkt er das? – wird es passieren.
Neben mir steht Greg. Der Kanadier arbeitet für eine Hilfsorganisation in den Flüchtlingslagern. Ich frage ihn nach seinem Lebensgefühl hier. Und der Achtundzwanzigjährige erzählt, dass Woody Allen seinen Film »Der Stadtneurotiker« ursprünglich »Anhedonia« nennen wollte: »Unfreude«, eben Hinweis auf unsere (westliche) Unfähigkeit zur Freude. Durch unsere zähnefletschende Gier nach unaufhörlich mehr Wohlstand wären wir blasiert geworden. Aber hier, sagt Greg, würde es nach Scheiße stinken. Doch dieses Talent zur Freude, das sei ihnen nicht auszutreiben.
Greg, der Scheue, der Bücherleser, setzt nach. Wir hätten uns so sehr an unser (inneres) Unglück gewöhnt, dass wir es nicht mehr hergäben. Selbst dann nicht, wenn man uns dafür ein fröhliches Herz verspräche. Denn im Unglück würden wir uns auskennen. Im Glück nicht. Also lieber mit »quiet desperation« am Leben vorbei als auf riskanten Pfaden in ein unbekanntes Territorium. Und da die Mehrheit weder Kälte noch Hitze aushalte, habe der liebe Gott für sie »the fun«, den Spaß, erfunden. Eine smarte Droge, um die Körpertemperatur konstant auf lauwarm oder knapp über lauwarm zu halten. Einer der Gründe, warum er sich als junger Mediziner für den Sudan entschieden habe, war die Einsicht, dass in seinem Land keine Überraschungen, keine Geheimnisse mehr lauerten, dass alles auf unbarmherzig vorausschaubare Weise seinen Weg ging. »Disenchanted«, sei unser Leben, der Zauber fehle.
Ach ja, der Produzent des Filmes habe Woody noch gefragt, ob er geisteskrank geworden sei. Denn nur ein Geisteskranker könne glauben, dass die freudlose Masse einen Film mit dem Titel »Unfreude« sehen wolle.
Durch die Wüste, vorbei an Sudanesinnen mit schönen Händen, an Heuschreckenschwärmen und einer Leiche
Am nächsten Morgen beginnt die Reise Richtung Osten, Richtung Zentralafrika. So fängt sie an: Mit einem Stadtbus will ich zum Bahnhof. Wir steigen ein. Und steigen wieder aus. Die lahme Batterie, alle müssen anschieben. Es zündet. Das klappt drei Minuten lang, dann knallt ein Vorderreifen. Wieder hinaus.
Der erste Streckenabschnitt nach El Obeid birgt keine Probleme. Die fünfhundert Kilometer sind asphaltiert. Der Bus funktioniert ohne Zwischenfälle. Der einzige Zwischenfall bin ich. Drei Mal muss ich raus zur Kontrolle, und drei Mal bitte ich den Fahrer, auf offener Strecke anzuhalten. Bauchkrämpfe, der kalte Schweiß steht mir auf der Stirn. Das dreckige Wasser, das dreckige Essen, mein westlich degenerierter Magen wimmert vor Schmerzen. Das wäre nicht der Rede wert, machte ich dabei nicht eine merkwürdige Erfahrung: Ich renne hinaus und setze mich in den Sand. Riesiges flaches Land, nichts als ein magerer Strauch beschützt mich vor den
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