Lesereise - Afrika
tödlich. Nach dreiundzwanzig Uhr surrt ein Millionenheer über uns hinweg. Eine dunkle Wolke Heuschrecken, leer fressend, was noch nicht leer gefressen ist. Sie klatschen gegen das Blech und die Fensterscheiben. Man muss nur die Hand ausstrecken, um sie abzufangen. Zwei Millionen Flügel sind laut, es braust, nach zwanzig Minuten ist die Welt wieder leise, der Spuk verflogen.
Der nächste Auftritt, drei Stunden später, ist kriminell. Wir kommen zum Stehen. Die meisten schlafen, einige unterhalten sich. Azen erzählt mir gerade von seinem Leben als Dorflehrer. Dass wir stoppen, ist nichts Besonderes. Möglicherweise den Motor abkühlen und Wasser nachfüllen. Diesmal nicht. Von vorn kommt ein scharfer Wortwechsel. Als ich aufstehen will, um nachzusehen, hält mich Azen blitzschnell zurück, legt die Hand auf meinen Mund: »Be quiet, be quiet«, flüstert er, »gangsters, gangsters here.« Der nahe Wortwechsel ist auf Arabisch, und er weiß sofort, was es geschlagen hat: Wir sollen absteigen, Geld abgeben und unser Gepäck öffnen. Mir fällt meine Unterschrift in Khartoum ein, siehe unter »armed robbery«. Jetzt ist Zahltag. Aber die Zeit reicht nicht. Weder für Selbstvorwürfe noch für heftigere Angstzustände. Ein Maschinengewehr peitscht, ein Durchgang. Dann Stille. Als wir endlich wagen, uns aufzurichten, ist alles längst vorbei. Der Anführer liegt neben dem linken Vorderrad, blutüberströmt. Die andern beiden sind geflohen, querfeldein mit den Kamelen. Eine hysterische Aufregung bricht los. Vierzig Männer schreien durcheinander. Dann knallen wieder Schüsse. Es ist Abukabar, einer der Soldaten, der Todesschütze, der um Ruhe bittet. Er stand hinter dem Führerhaus auf der Ladefläche. Und da er keine Uniform trug, sondern nur den traditionellen Umhang, sah er aus wie ein harmloser Passagier. Als der Bandenchef einen Moment den Kopf wandte, um seinen Leuten etwas zuzurufen, packte Abukabar seine griffbereite Kalaschnikow und feuerte ab.
Am linken Oberarm des Toten hängen sieben winzige Lederbeutel, das chidbet . In jedem steckt eine Sure des Korans. Sieben Mal sollten sie beschützen. Auch gegen Gewehrkugeln, so Azen, »damit sie nicht losgehen«. Sogar eine Sure gegen »jede Verhaftung«. Die hat geholfen. Wäre der Raubritter am Leben, die Scharia -Justiz würde ihn zerstückeln.
Die Soldaten wickeln die Leiche in Tücher, laden sie auf. Blut sickert durch den weißen Stoff. Die Fahrt geht weiter, wie gebannt starren wir auf das Bündel. Einer hält mit gezogener Pistole Wache. Sudanesen glauben an vieles, sicher auch an die Wiederauferstehung von Erschossenen.
Am nächsten Morgen kommen wir in Ed Daein an. Ein großer Parkplatz, ein Markt. Wir halten am Polizeiposten. Abukabar wirkt zufrieden, er gilt als Held der Nacht. Sicher ist eine Beförderung fällig. Viele umarmen ihn, sie verdanken ihm ihr Hab und Gut.
Vierundzwanzig Stunden später erreichen Azen und ich Nyala, die Hauptstadt der Provinz Süd-Darfur. Ein Sultan regierte hier vor langer Zeit. Inzwischen kamen Hungersnöte und biblische Dürren. Wäre es anders, funktionierte der Ort noch immer als Endstation der Zugverbindung nach Khartoum. Aber vor Jahren kam ein letzter Zug vorbei. Azen lebt hier. Als wir in den Ort hineinfahren, sagt er den unglaublichen Satz: »It’s a beautiful city, isn’t it?« Ein Drecksloch, ausgedörrt, auf den Abfallhaufen wimmeln Kinder und Alte, die nach Nahrung suchen. Aber hier sind die Menschen, die Azen liebt. Hier muss es schön sein.
Überall Militär, die Bürgerkriegsfront jetzt ganz nahe. Bevor ich mich auf die Holzpritsche meiner Unterkunft – Kakerlaken und eine Maus werden sie mit mir teilen – legen darf, muss ich zur Security. Es geht nicht mehr um eine Permission, sondern nur noch um die Bestätigung, dass ich sie bereits habe. Ein Giftbrocken fragt mich aus, sogar meinen »nickname« will er wissen sowie alle Länder, die ich je besucht habe. Anschließend schreibt er sich die Nummern aller im Pass befindlichen Visa auf, forscht nach dem Beruf (ich lüge grundsätzlich, bin immer »teacher«), fragt nach »speciality« (französische Philosophie, auch das klingt arglos), verschwindet und lässt mich warten. Ich weiß, dass ich nun lautstark und unhöflich werden muss. Sudanesische Beamte sind – ähnlich einem Funktionär in Paris oder Pinneberg – wiedergeborene Mehlsäcke und müssen bisweilen daran erinnert werden, dass die andere Hälfte der Menschheit noch andere Geschäfte zu
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