Lesereise - Inseln des Nordens
schleichen durch den Laden, kaufen nie etwas, man muss aufpassen wie ein Luchs.« Manche der Tagesgäste wüssten nicht einmal, dass auf Spitzbergen Norwegisch gesprochen werde, mokiert sich Lisa. Sie fotografierten jeden auf der Straße, »manchmal fühlen wir uns wie arktische Affen«.
Vidar Løkeng
Vidars Eisbärengeschichte geht so: Vor zwölf Jahren kam der Norweger für ein paar Winterwochen nach Longyearbyen, er besuchte einen Freund, der hier arbeitete. Sie fuhren mit Skiern hinaus. Abends saßen die beiden in einer alten Jägerhütte, kochten Kaffee, als draußen Geräusche zu hören waren. Geräusche eines schweren Tieres, das um die Hütte tappte. Sie hörten auch ein Grunzen. Dann hörten sie ein Scharren und Schaben, außen an den Holzwänden, die ihnen nun sehr dünn schienen. Sie fühlten sich wie ein Polarfuchs in einer Trapperfalle. Sie konnten nicht hinaus, drinnen bleiben wollten sie aber auch nicht. Vidar sagt, er habe das Gewehr im Anschlag gehalten, ohne zu wissen, was passieren würde, wenn der riesige Bär, denn er hörte sich riesig an, mit der Tür ins Haus fallen würde. Schließlich trottete der Eisbär aber davon. Das ist das Ende der Geschichte, sie hat keine Pointe und ist deshalb eine gute Geschichte. Später erzählt er eine andere, da blieb von einer deutschen Touristin, die auf einen Berg hinter Longyearbyen gestiegen war, nicht viel übrig.
Vidar erzählt seine Geschichten, während er auf einem Rentierfell sitzt und Kaffee trinkt. Er ist Lehrer an einer folkehøgskole nahe Tromsø, die ihren Jahresausflug nach Spitzbergen macht und die Studenten als arbeitende Gäste auf die Hundefarm bringt. An dieser Schule lernen junge Menschen alles, was zum friluftsliv dazugehört. Das Recht auf das Leben im Freien ist im norwegischen Gesetz verankert, geradeso wie der »pursuit of happiness« – das Streben nach Glückseligkeit – in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Parallele ist passend, kann doch gerade das Draußensein, das Herumziehen in der Natur, unerreichbare Glücksgefühle vermitteln.
Vidar Løkeng sieht mit seiner randlosen Brille aus wie ein Geschichtslehrer, aber er unterrichtet Mushing, das Trainieren und Führen von Schlittenhunden. Außerdem züchtet er Hunde und fährt Hundeschlittenrennen. Nach Spitzbergen kommt er jedes Jahr mit seinen Studenten, denn so nahe am Nordpol könnten sie extreme Bedingungen durchleben. In solchen Tagen und Nächten, bei tiefen Minusgraden, Stürmen und anderen Widrigkeiten »können die Studenten ihre Grenzen kennenlernen und erfahren, was ein Zelt und ein warmer Schlafsack bedeuten«. Zudem bilde die Erforschung der Arktis einen Teil der norwegischen Identität, »wir sind stolz auf Amundsen, Nansen, Johansen und die andern und möchten das unserer Jugend vermitteln«.
Die Studenten lümmeln auf Rentierfellen in einer Gamme, die den samischen Torfhütten nachgebildet ist. Allerdings ist diese für den Tourismus ausgerichtet, es passen gut zwanzig Leute hinein. Zur Hauptsaison ab Ende März kommen Reisegruppen, die arktische Abenteuer gebucht haben. Die Gamme steht auf dem Gelände eines Hundehofs, draußen kuscheln sich achtzig Schlittenhunde in den Schnee oder verkriechen sich in ihren Hütten. Jede Nacht bläst der Wind wieder Schnee auf und rund um die Hütten, härtet ihn wie Beton, jeden Morgen treten die Studenten, unter ihnen auch zarte Mädchen, hinaus und an wie zum Appell, um die Hundehütten frei zu schaufeln. Sisyphosse der Arktis.
Das Feuer in der Gamme wird dünner, einer der jungen Männer greift zur Axt, beherzt schafft er Feuerholz. Vidar sinniert: »Wie viele Menschen können noch mit einer Axt umgehen?« Die Gegenfrage – wozu auch? – überhört er. Die meisten Menschen lebten urban, »haben es warm und gemütlich. In meiner Welt im Norden ist das nicht möglich.« Dabei erfahre man nur so, was Glück ist: ein wärmendes Feuer etwa. »Das Leben muss hart sein, um es genießen zu können«, sagt Vidar noch. Man versteht allmählich, wieso der Katholizismus im Norden nie Fuß fassen konnte. Vidars Postulate sind die reinste protestantische Lehre, geprägt vom Laestadianismus, der lutherischen Erweckungsbewegung, die der »Samenpastor« Lars Levi Læstadius im 19. Jahrhundert nach Nordskandinavien brachte. »Mein Großvater war Laestadianer«, sagt Vidar.
Eine Gruppe von Studenten macht sich fertig, Schnee schippen, Hütten reparieren. Vidar geht mit hinaus, das Gewehr lehnt er an einen Pfosten. Ein
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