Lesereise - Israel
Morgenstunden für keine Minute Pause machen. Andere gesellen sich hinzu. Auf einer Seite gibt ein Mann mit seiner Flöte den afrikanischen Klängen einen arabischen Anstrich, gegenüber trällert ein junger Mann mit Sonnenbrille auf seinem Dudelsack. Hunderte versammeln sich hier in den Stunden, die in Israel das Wochenende einleiten.
Alles begann vor elf Jahren ganz bescheiden als ein »Treff junger Menschen, die aus Indien heimkehrten und sich im modernen, materialistischen Israel nicht fanden«, sagt Paul, ein zum Aussteiger mutierter zweiundsechzigjähriger Informatiklehrer und Begründer der Lokaltradition. Paul findet sich jede Woche hier ein, einzig mit seiner Flöte bewehrt und in viel zu weite, seit Langem nicht mehr gewaschene Hemden gehüllt. Ekstatisch wiegt er im Rhythmus hin und her und wird Teil des wohl demokratischsten Orchesters der Welt. Jeder trommelt nach seiner Fasson, ununterbrochen tauchen wie von Geisterhand neue Rhythmen auf, die die Gruppe übernimmt, ohne in Kakofonie zu verfallen. Pauls Privatinitiative ist zu einer Institution geworden. Alle Farben Tel Avivs treffen hier aufeinander: Aussteiger und Spießer, Rentner und Kleinkind, sogar ein paar Religiöse, die auf dem Weg zur Synagoge für wenige Augenblicke anhalten, während sich nahe der Brandung Pärchen liebkosen. Der Takt schwankt zwischen den bierbäuchigen Israelis und einer Gruppe afrikanischer Gastarbeiter hin und her, die nebenan einen alternativen Trommelring eröffnet haben. In ihrer Mitte geben sich israelische Mädchen im Bikini dem bacchantischen Reigen hin.
»Parpar«, der Schmetterling, nach einer großen grünen Tätowierung auf seinem Rücken benannt, gehört bereits zum Inventar. Barfuß und barbrüstig hüpft die fröhliche dreiundfünfzigjährige israelische Version eines Clochards durch die Menge, ohne dabei die fast leere Singleton-Whisky-Flasche aus der Hand zu lassen. Unbeschwert tanzt neben ihm der vierjährige Eden, den seine Mutter, die Rechtsanwältin Sigal, zum ersten Mal hergebracht hat. »Ist doch herrlich, man kann hier den ganzen Stress der Woche vergessen«, sagt sie. Auch Christine Tews, eine sechsundzwanzigjährige Übersetzerin aus Düsseldorf, ist von ihrem ersten Besuch am Trommelstrand begeistert. Entspannt zieht sie an einer Wasserpfeife mit Kaffeebohnen, während Hunde um sie herum im feinen weißen Sand tollen: »Die Menschen in Tel Aviv sind so lebensfroh und aufgeschlossen. Ich finde es hier überraschend karibisch.« Sie muss es wissen, schließlich ist sie Expertin für interkulturelle Kommunikation in Südamerika.
Am Trommelstrand begreift man die Essenz von Tel Aviv: Rechtsanwälte und Drogenkonsumenten, Mütter, Rentner und Penner, Homosexuelle und Religiöse musizieren, tanzen und freuen sich ausgelassen miteinander. Toleranz als vorgelebtes Motto. Mit Sonnenuntergang packen die Drachensurfer, die den ganzen Tag lang über die Wellen schossen, ihre Bretter ein, viele gehen vom Strand direkt nach Hause zum Abendbrot. Jetzt beginnt die Glanzstunde der Feuerjongleure: Oben auf dem Wellenbrecher wirbeln unzählige Hände über zig Trommeln, unten am Strand sausen fackelnde Pois durch die Luft. Die zischenden Feuerbälle passen nicht so ganz zum braven Eindruck von Schira, einer neunundzwanzigjährigen Blondine aus Australien, passen. Sie hat sich nach mehreren Besuchen entschlossen, nach Israel zu ziehen: »Menschen hier leben mit einer unvergleichlichen Inbrunst«, erklärt sie ihre Entscheidung, die sie selbst nicht als gewagt empfindet.
Der siebenunddreißigjährige Immobilienverwalter Juda mag es auch lieber heiß: Für ihn ist der Nachmittag am Trommelstrand lediglich Auftakt der längsten Nacht der Woche. Um elf Uhr abends, wenn in deutschen Städten die Küchen in den meisten Restaurants schließen, beginnt er seinen Streifzug durch die Restaurants und Clubs von Tel Aviv. Die Auswahl ist quälend groß: Mehr als dreihundert Bars sind über die knapp fünfzig Quadratkilometer der Stadt verteilt, dazu finden gleichzeitig unzählige private Partys, Festivals in Straßen, Parks und in den Städten und Dörfern der Umgebung statt. Für jeden Geschmack ist gesorgt: vom Volkstanz im Weinkeller, dem irischen Pub mit Livemusik, über den Jazzclub oder weltbekannte Homosexuellentreffs bis zum Dungeon, dem bizarrsten Ort der Stadt, wo Liebhaber des Sadomasochismus auf Sonderpartys, die Themen wie »Nutten und Brummifahrer« oder »Beschneidungen live« haben, ihre Fantasien ungehemmt
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