Lesereise - Israel
seine Berater kamen hoch zu Ross. Die Logistik für die Feiern erinnerte an die Versorgung einer modernen Armee. In den koscheren Feldküchen wurden achtzehnhundert Hühnchen, achthundert Kilo Rindfleisch und 1,2 Tonnen Karpfen verarbeitet, dreihundert Meter Brot standen bereit, um Tausende Mägen zu füllen. Willkommen in der Welt der jüdischen Ultraorthodoxen, die sich selbst »Haredim« nennen.
Wie die meisten Begriffe ihrer Welt leitet sich diese Bezeichnung von der Bibel ab, genauer gesagt von Jesajah 66:5 »Höret des HERRN Wort, die ihr euch fürchtet (hebräisch: haredim ) vor seinem Wort«. Doch so nennen sie sich nur im Umgang mit anderen Israelis. Wenn sie unter sich sind, sprechen sie lieber Jiddisch, die Exilsprache osteuropäischer Juden, ein Gemisch aus Deutsch, Hebräisch und anderen osteuropäischen Sprachen. Auf Jiddisch nennen sie sich einfach nur Jidn , Juden also, oder, um sich von den schweinefleischessenden Säkularen in Tel Aviv zu unterscheiden, ehrliche Jidn .
Nicht nur für die Anhänger des Rabbiners Zwi Elimelech Halberstam, dem Führer der Zanser Juden, der an diesem Tag seinen Sohn verheiratete, war die Hochzeit in Netanjah ein historisches Ereignis. Für viele ehrliche Jidn sind die Halberstams Sinnbild der Wiedergeburt einer ganzen Kultur, die man verloren glaubte. Der Lebensweg von Rabbiner Jakutiel Jehuda Halberstam, dem Gründer der Zanser, ist in ihren Augen stellvertretend für das Schicksal des gesamten osteuropäischen Judentums, das fast vom Holocaust ausgelöscht wurde. Halberstam verlor seine Ehefrau und alle zwölf Kinder in den Gaskammern von Auschwitz. Der Witwer zog nach Israel und gründete mit den Anhängern aus Europa einen neuen Zanser Hof. Aus der kleinen Schar ist seither eine Gemeinde von mehr als tausendfünfhundert Familien geworden, eine der wichtigsten Strömungen der Haredim.
Als der Staat Israel drei Jahre nach der Schoah gegründet wurde, dachte niemand, dass die Haredim sich je von dem vernichtenden Schlag der Nazis erholen würden. Die zionistischen Pioniere, von denen viele als Jugendliche ihr religiöses Elternhaus verlassen hatten und allein nach Palästina ausgewandert waren, betrachteten die Überbleibsel der Diasporakultur mit Schuldgefühlen und Nostalgie. Die Pioniere, selbst ernannte Vertreter eines neuen Menschenschlags, waren sich sicher, dass sie fortan die kulturelle Marschrichtung des sich erneuernden »neuen jüdischen Volkes« angeben würden. Wie lang konnte die Ultraorthodoxie gegen die verlockende Überlegenheit des muskulösen, sozialistischen, selbstbewussten »neuen Israeli« schon standhalten?
Doch sie irrten sich. Wie die Zahl der Zanser ist auch die aller Haredim seit der Gründung des Staates Israel gewaltig gestiegen. »Rabbiner, Lehrer und Freunde! Diese heilige Gemeinde ist die Wiederauferstehung der toten Knochen, die im Holocaust verbrannt wurden«, schrieb die orthodoxe Zeitung Hamahane Haharedi schon 1988, als Tausende zu den Feiern des Belzer Rabbiners kamen. »Diese heilige Gemeinde ist eine schallende Ohrfeige im Gesicht aller Nebukadnezars: Ihr wolltet, Gott behüte, das jüdische Volk auslöschen und müsst jetzt sehen, dass es immer noch in Heiligkeit, Reinheit, Hasidismus und genauer Beachtung der Gesetze lebt wie einst.« Aus einer verschwindend kleinen Zahl von Holocaust-Überlebenden ist ein bedeutender Faktor der israelischen Politik geworden.
Dabei erkennt ein großer Teil der Haredim den Staat Israel gar nicht an. Dies liegt zum einen daran, dass Israel ein moderner Staat mit westlicher Prägung ist. »Israels Armee und Gesellschaft sichern unser Leben, aber gefährden unsere Seelen«, sagt Israel Eichler, Redakteur einer haredischen Zeitung. Das Leben der Haredim wird vom Credo des Rabbiner Moses Sofer (1762–1839) geprägt: »Alles, was neu ist, wird von der Thora verboten.« Statt Neuerungen zu suchen, wollen die Haredim ihre Traditionen erhalten und versuchen, sich vom Alltagsleben in Israel abzuschotten. Sie wohnen in getrennten Wohnvierteln, haben eigene Zeitungen, Buslinien und Internetseiten. Rabbiner gestatten nur »koschere« Handys, die weder SMS verschicken noch eine Internetverbindung herstellen können. »Bei uns Juden hat sich seit tausend Jahren nichts verändert, und nichts wird sich je verändern«, sagt Jerucham Kloisner, ein Verkäufer in einem Hutgeschäft in Mea Schearim, einer ultraorthodoxen Hochburg in Jerusalem.
Doch nicht alle meinen, dass bei den Haredim alles gleich
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