Lesereise Kanarische Inseln
der Kanarischen Inseln mit ihren vom Wind immer neu drapierten, geradezu körperlichen Kurven. Urlauber stapfen barfuß durch die Wellen dieses Ozeans aus feinsten goldfarbenen Körnchen, erklimmen keuchend steil aufragende Sandberge, stehen staunend
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auf einem Grat und lassen den Blick schweifen bis zum mehr als acht Kilometer langen Strand, der sich vom Faro de Maspalomas bis zur Playa del Inglés zieht und selbst zur Hochsaison genug Platz für alle bietet.
Die Dünen von Maspalomas stehen unter Naturschutz ebenso wie die dazu gehörende Brackwasserlagune Charca, die als Lebensraum für Seevögel wichtig ist. Wenn die Sonne sinkt und die Kuppen der Sandberge erste Schatten in die Mulden werfen, sind die Dünen am schönsten. Mit jeder Minute ändern sie ihre Tönung. Die Farben werden satter, das helle Gelb wird zu leuchtendem Gold, wechselt zu zartem Rosa, schimmert kupferbraun im letzten Licht wie die von der Sonne verwöhnten Gesichter, die von der Promenade aus das Spektakel betrachten.
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Ich pfeif dir was!
Auf La Gomera fungieren bis heute die Finger als Mobiltelefon
Mittwoch morgen in San Sebastián de La Gomera, wo Kolumbus einst in See stach, um westwärts nach Indien zu gelangen und dabei Amerika »entdeckte«. Den Klassenraum der 6b des Colegio Nacional Ruiz de Padrón betritt ein älterer Herr. Lino Rodriguez, früher Spezialist in der Errichtung von Trockenmauern, seit seiner Pensionierung ehrenamtlich als Lehrer tätig, bittet um Ruhe. Die Kinder sammeln sich und stehen auf. Spanische Sprache steht auf dem Stundenplan, aber einmal in der Woche hat dies rein gar nichts mit dem üblichen Unterricht in der Muttersprache zu tun. Señor Rodriguez fordert seine Schüler auf, sich einzustimmen. Zwei Dutzend Hände fliegen zum Mund, ein Finger wird gekrümmt zwischen die Lippen geschoben, und los geht es. Klingt ungefähr so, als stimme sich ein Orchester ein. Oder als gäben Schreivögel ein Konzert. Das ganze nennt sich el silbo . Das Verb dazu heißt silbar .
Es geht also ums Pfeifen, genauer um die Pfeifsprache el silbo , die auf dem kanarischen Archipel ausschließlich auf La Gomera gepflegt wird. Warum das so ist? Eugenio Darias, Koordinator des Unterrichts kann es anschaulich erklären: »Man nehme einen Klumpen Teig, rolle ihn zum Ball, schneide
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ihn in der Mitte durch und lege eine Halbkugel vor sich auf den Tisch. Dann ziehe man mit den Fingern vom höchsten Punkt zum Rand tiefe Rillen in die Masse. Das ist unsere Insel«.
La Gomera ist die einzige kanarische Insel, die schon seit zwei Millionen Jahren keine Vulkanausbrüche mehr erlebt hat, wohingegen etwa auf der Nachbarinsel La Palma zuletzt 1971 tüchtig Feuer gespuckt wurde. Auf La Gomera hatten Wind und Wetter dementsprechend jede Menge Zeit, das Eiland altern zu lassen. Steile Falten und Furchen sind so entstanden, immer tiefer ins Terrain gefräst durch die Erosion, Schwindel erregende Schluchten, die hier barrancos genannt werden. Deshalb quälen sich Autofahrer auf La Gomera von einer Kurve in die andere. Deshalb lieben Wanderer das anspruchsvolle Relief der Insel.
Eugenio Darias hat el silbo nicht in der Schule gelernt, sondern durch das Alltagsleben: »Wenn man in den Bergen lebte und irgendwo Ziegen hütete, war el silbo von großem Nutzen. Es gab ja noch keine Mobiltelefone. Wer merkte, dass dringend eine Sichel her muss, hat mal eben rüber gepfiffen, dass der Onkel sie später mitbringen soll. Die Alternative wäre nämlich gewesen, die steile Flanke einer Schlucht hinunterzuklettern und sich auf der anderen Seite endlos wieder hochzukämpfen. Nur, um eine vergessene Sichel zu holen.«
Drei Kilometer weit kann man die Pfiffe hören, freilich nur bei guten Wetterverhältnissen. Bei Regen ist die Distanz kürzer. Und bei Nebel ist der Empfang ganz schlecht. Um el silbo zu verstehen,
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muss man pfiffig sein. Es ist eine kontextbezogene Sprache, die nur aus sechs Lauten besteht. Jeder Laut steht für eine ganze Reihe von im Spanischen ähnlich klingenden Silben. Die Anzahl der Silben ist beim Sprechen wie beim Pfeifen exakt gleich. Eine einzige Pfiffabfolge kann jedoch bis zu vierzig verschiedene Wortbedeutungen abdecken. Worte wie lana, rana oder rayo werden durch exakt den gleichen Pfiff übermittelt. Allein der Kontext erlaubt die richtige Entschlüsselung und die Feststellung, ob nun von der Wolle, einem Frosch oder dem Sonnenstrahl die Rede war.
Klappt aber, wie die 6b anschaulich vorführt. Lehrer Rodriguez
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