Lesereise Kulinarium - Italien
ist ein Mensch mit Computergedächtnis. Darin speichert er die Vorlieben und Eigenheiten seiner zweihundert bis dreihundert Stammkunden, die täglich in der Bar Santoni aufkreuzen: welche Art von Kaffee einer bevorzugt, ob er ihn aus der tazzina, dem Espressotässchen, trinkt oder aus dem kleinen, dicken Glas, wie viel Zucker einer nimmt und welche Zutaten er im Espresso liebt. Mal legt Antonio gleich den Diätsüßstoff auf die Untertasse, mal langt er ins verspiegelte Regal nach der Brandyflasche. Und immer wieder wischt er mit feuchtem Tuch über den Marmortresen und die Espressomaschine, immer wieder richtet er die langen Löffel auf, die aufrecht im Zucker stehen sollen. Und immer läuft aus dem Wasserhahn ein dünner Strahl ins Becken.
Die Kaffeebar hat mancherlei Funktion, darunter die, dass man dort Kaffee trinken kann. Caffè, sagt der Italiener und meint damit das, was seine Nachbarn unter dem Begriff Espresso längst als Attribut verfeinerter Lebensart übernommen haben. Die Espressomaschine, erstmals 1905 industriell gefertigt, hat ein Extraktionsverfahren, das ein besonders intensives Aroma und einen luftigen Schaum auf dem Körper des Kaffees hervorbringt. Ein Tässchen Espresso, zwanzig bis fünfunddreißig Milliliter, um genau zu sein, erzeugt der Barmann, indem er per Knopfdruck vollautomatisch das Wasser in der Espressomaschine auf neunzig bis fünfundneunzig Grad erhitzt und es bei einem Druck von neun Bar in Form von Dampf fünfundzwanzig bis dreißig Sekunden lang durch sechseinhalb bis sieben Gramm fein gemahlenen Kaffee presst (so besagt es jedenfalls ein Leitfaden der größten Kaffeefirma Lavazza).
Indes ist mit einem einfachen caffè nicht jeder Kunde in der Bar zufrieden. Es lebe die Vielfalt, wir sind in Italien. Ergo gibt es auch den caffè macchiato , den mit ein paar Tropfen warmer oder kalter Milch »befleckten«, dessen Gegenstück das mit ein paar Spritzern Kaffee verdunkelte Glas Milch ist: latte macchiato . Der caffè lungo wird mit Wasser verlängert, der caffè doppio ist eine doppelte Kaffeeportion und der caffè corretto ist korrigiert durch Zusatz von Grappa, Whisky, Amaro oder ähnlichen Spirituosen. Caffè al vino rosso ist mit Rotwein versetzt, caffè freddo wird im Sommer verlangt, denn er ist eiseskalt.
In Süditalien ist der caffè ristretto gang und gäbe – etwas weniger, dafür umso stärker. Und die Bewohner des mezzogiorno wissen auch, was mit caffè genovese gemeint ist: ein Espresso mit einem derart großen Schuss Milch, dass es schon fast ein caffè latte ist, ein Milchkaffee, der freilich teurer wäre. Als Genueser Gesöff verspotten ihn die Südländer deshalb, weil sie die Bürger Genuas für besonders geizig halten.
Hingegen war in Neapel bis vor einiger Zeit ein Gestus besonderer Großzügigkeit verknüpft mit dem caffè sospeso , dem aufgeschobenen Kaffee. Hatte jemand etwas Erfreuliches erlebt, so ging er zur Bar, bestellte und bezahlte zwei Kaffee. Er trank aber nur einen, der zweite blieb ausgesetzt für irgendeinen unbekannten armen Nebenmenschen, der nach ihm kommen, den Barmann nach einem caffè sospeso fragen und dann umsonst sein Tässchen haben würde.
Kaffeebars sind Orte der Anteilnahme. Antonio, der Barmann aus der Via dei Coronari in Rom, schneidet aus seinen leeren Milchtüten den roten Sammelpunkt aus – für eine alte Dame aus der Nachbarschaft; bei dreitausend Punkten gibt’s ein Kaffeeservice. Antonio ist persona di fiducia , ein Vertrauensmann im Viertel. Man gibt bei ihm die Hausschlüssel ab, damit der Freund sie dort abholen kann. Und die Antiquitätenhändler aus der Nachbarschaft wenden sich an ihn, wenn sie einen Transporteur brauchen. Antonio vermittelt.
Antonio kennt die privaten Verhältnisse der Stammkunden, und diese kennen seine. Italienische Kaffeebars sind fast immer Familienbetriebe, deshalb sieht man hinter der Theke so viele Leute. Antonio hat seine Schwester Celestina und öfters auch die Mutter Vincenza zur Seite; Bruder Oreste, ein Bankangestellter, hilft morgens und abends von sechs bis acht Uhr mit.
Für jeden Gast haben Antonio und Celestina ein freundliches Wort, sie stiften Kontakte zwischen Menschen, die alleine am Tresen stehen. »Man muss immer fröhlich sein«, sagt der Barmann. Menschen aller Klassen und Eigenarten kommen herein, Männer wie Frauen, Arbeiter im verschmierten Overall und adlige Damen im Kostüm. Sie erzählen einander Geschichten oder räsonieren über die Launen der Menschen und der
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