Lesereise Prag
im Land bekannte und verehrte Original- und Universalgenie Jára Cimrman in Frage.
Von den TV -Gewaltigen wurde übrigens beim Bildschirmspiel das Votum für den Geheimnisvollen nicht anerkannt, man bestand auf historischen Tatsachen. Also siegte Kaiser Karl IV. vor dem Republik-Gründer Tomáš G. Masaryk und dem Revolutionsdramatiker Václav Havel. Jára Cimrman aber wirkt machtvoll weiter im Theater und in der Fantasie – als autodidaktisches Universalgenie, das komponierte, philosophierte, den Joghurt und den Bikini erfand, in Galizien das Schulwesen und in den Hochalpen die moderne Hebammenkunst einführte. Der US -Regierung schlug der Tausendsassa den Bau des Panamakanals vor und lieferte gleich das Libretto für eine passende Oper mit. Von Sigmund Freud erfuhr er schon als Kind entscheidende Impulse, und Albert Einstein wäre ohne ihn wohl schwerlich auf seine Relativitätstheorie gekommen. Nur hat das leider die Welt noch nicht bemerkt.
Was aber überhaupt nichts macht. Aus der Absonderlichkeit ist ein exklusives Vergnügen geworden, das man zumindest im Jára-Cimrman-Theater schon wegen der sprachlichen Equilibristik und der Anspielungen auf nationale Gemütszustände wohl nur als Tscheche wahrhaft genießen kann. Aber damit hat es sein Bewenden noch nicht. In etlichen Orten haben die Tschechen etliche Straßen nach ihm benannt, und an Sonn- und Werktagen strömen sie in sein Museum im kleinen Prager Eiffelturm, der dem Original einst bewusst nachempfunden wurde. Wer hat wohl übrigens dem echten Gustave Eiffel den entscheidenden Tipp für die bekannte Spreizung der Beine seines Pariser Turms gegeben? Natürlich Cimrman.
In seinem Theater ist 2007 aus Anlass des Jubiläums übrigens ein neues Stück uraufgeführt worden, das fünfzehnte. Es hieß »Der tschechische Himmel«. Im Juni 2010 war die moderne Sagengestalt im Land erneut ein großes Thema, das tagelang die ersten Seiten der Gazetten füllte. Einer der beiden Cimrman-Schöpfer, Ladislav Smoljak, war im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben. Die Zeitungen widmeten ihm umfangreiche Nachrufe, eine Schlagzeile in Mladá Fronta Dnes erklärte ihn gar zum Unsterblichen. Der langjährige Freund und Compagnon Zdeněk Svěrák rief ihm nach, der Verstorbene sei jetzt ja wohl im »tschechischen Himmel« angekommen. Und trug ihm auf: »Grüß Cimrman, wenn er dort ist.«
Wie sich’s gehört
Ein früherer Dozent und Präsidentenberater lehrt Etikette nach tschechischer Art
Es war unvermeidlich, dass die Wächter der guten Sitten sich eines Tages auch des Mobiltelefons annehmen würden. Das elektronische Kommunikationsgerät ist schließlich so tief in den Alltag eingedrungen, dass man ihm kaum mehr entkommt, weder auf der Straße noch im Zug noch beim Spaziergang im Wald. Nie ist es eine angenehme Begegnung. Unwillentlich wird man zum Zeugen freundschaftlicher Plaudereien oder ehelicher Dramen, vor allem aber eines exzessiven Austauschs von Banalitäten. Wer dies des Öfteren erlebt hat, zum Beispiel in der Prager Straßenbahn, wird deshalb dem Autor Ladislav Špaček aus vollem Herzen zustimmen, wenn dieser als goldene Regel für den Umgang mit dem Handy die Losung ausgibt: »Vor allem nicht stören!«
Ladislav Špaček verkörpert einen Typus, der in Tschechien und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas für Jahrzehnte nicht gefragt war und erst jetzt wieder Geltung erlangt. Der sechzigjährige Schöngeist, der früher Dozent für tschechische Sprachgeschichte an der Karlsuniversität und später Nachrichtenmoderator im Fernsehen war, ist in seiner Heimat bekannt als Experte für gutes Benehmen und gesellschaftlichen Anstand. Mit seinen gedeckten Anzügen und dem gepflegten Silberhaar figuriert er in seinen Fernsehsendungen und Büchern als jene Art gepflegter Herr, den man anderswo Signore oder Gentleman nennt. Er lehrt nun nicht mehr Tschechisch, sondern Etikette.
Im Kommunismus war dies eine verfemte Disziplin. Wie hätten proletarische Bürokraten und Blockwarte der Stasi auch Gefallen finden sollen an Umgangsformen, die doch den ritterlichen Gepflogenheiten des Mittelalters entstammen und am Hofe König Ludwig XIV. in Versailles ihre feste Form erhielten? Auf Zetteln, französisch étiquettes genannt, notierte man die zeremonielle Rangfolge der Höflinge, und in der Tat ist solches für eine moderne Gesellschaft ja nicht unbedingt vorbildhaft. Weshalb die demokratisch gesinnten Amerikaner bestimmte Regeln europäischer Etikette auch stets
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