Lesereise Prag
einem sommerlich übersonnten Lokal am Moldauufer.
Junge Leute wie er finden einen Zugang zu jener fernen Zeit am ehesten noch über die Gestalt des Studenten Jan Palach, der vor vierzig Jahren zunächst Wirtschaftswissenschaften und dann an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Geschichte und politische Ökonomie studierte. Dort, am Fakultätsgebäude, ist heute eine bronzene Totenmaske angebracht, unter der sein Name steht. Und auf dem Wenzelsplatz, gleich vor dem Nationalmuseum, findet sich im Boden eingelassen ein nachgedunkeltes Bronzekreuz, wo ebenfalls in schlichten Großbuchstaben der Name Jan Palach zu lesen ist – vielleicht das, was vom »Prager Frühling« im heutigen Prager Alltagsleben noch am ehesten sichtbar ist.
Jan Palach ging am 16. Januar 1969, fünf Monate nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, nachmittags gegen 16 Uhr mit seiner Aktentasche und einem Benzinkanister zu jenem Platz vor dem Nationalmuseum, stellte die Aktentasche ab und übergoss sich mit Benzin. Dann setzte er ein brennendes Zündholz an sich selber und rannte als lebende Fackel auf dem Wenzelsplatz herum. Der rasche Einsatz eines Straßenbahn-Bediensteten, der sofort herbeieilte und seinen Mantel über ihn warf, konnte den Zwanzigjährigen nicht mehr retten. Fünfundachtzig Prozent seiner Haut waren verbrannt, drei Tage später erlag er im Krankenhaus den schweren Verletzungen.
Jan Palach hinterließ in seiner Aktentasche und bei mehreren Freunden einen Abschiedsbrief, in dem er seine Tat als Signal gegen die Hoffnungslosigkeit bezeichnete, die nach der Niederschlagung der Reformen um sich gegriffen hatte. Und er sprach von einer Gruppe Freiwilliger, deren Mitglieder einzeln seinem Beispiel folgen würden, wenn nicht die Pressezensur wieder aufgehoben würde. Die Gruppe gab es nicht, doch der Effekt war enorm. Noch am Todestag strömten zweihunderttausend Menschen auf dem Wenzelsplatz zusammen, Parteichef Dubček erlitt einen Nervenzusammenbruch, die Besatzer waren alarmiert. Mehr als zehntausend Menschen nahmen an Jan Palachs Beerdigung teil.
Welchen Schikanen später die Familie des Toten ausgesetzt war, hat eine Arbeitsgruppe der Karlsuniversität, in der der junge Historiker Jakub Jareš führend mitwirkt, inzwischen neu erforscht. Dazu konnten erstmals Akten der früheren Staatssicherheit StB herangezogen werden, das Buch wurde unter dem Titel »Jan Palach ’69« herausgebracht.
Jakub Jareš und Kollegen wollen aus Jan Palach keinen Mythos machen, sondern ihn als normalen, sensiblen, nach Reinheit und Konsequenz im Leben strebenden jungen Menschen schildern – ein junger Sozialist, der sich bis zum fatalen 21. August 1968 sehr für die Sowjetunion interessierte und ausgezeichnet Russisch sprach. Jan Palach habe, sagt Jakub Jareš, sich »in einer Stresssituation« zu seiner Tat entschieden, die andere Menschen seiner Zeit in ihrem Widerstand gegen das Unrecht sehr bestärkt habe. Bis heute sind die beiden Gedenkstätten für Jan Palach fast immer mit einer roten Rose oder anderen Blumen geschmückt.
Ein Trabi auf vier Beinen
Auf die legendäre Flucht von Tausenden DDR-Bürgern 1989 kommt man in der deutschen Botschaft immer wieder zurück
Es kulminierte damals alles in einem einzigen Satz, und dieser Satz wurde deshalb schon vor Jahren auf einer Bronzeplatte eingraviert. Man brachte sie auf der Brüstung des rückwärtigen Balkons der deutschen Botschaft in Prag an, und bei sommerlichen Empfängen weisen sich die Gäste gerne gegenseitig auf die Tafel hin. Ist doch in ihr der Mythos eingefangen, der dieses prachtvolle Palais Lobkowicz im schönsten Teil des alten Prag umgibt. Der magische Moment, der die Aura schuf, ist genau datierbar, auf Samstag, den 30. September 1989, 18.58 Uhr, als der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und weiteren Begleitern den Balkon betrat und erklärte: »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.«
Die letzten Worte gingen unter im Jubel von fast viertausend Menschen, die im Halbdunkel des vermatschten Parks sowie in den hoffnungslos überfüllten Räumen und Gängen des Palasts auf nichts so sehr gewartet hatten wie auf diesen Satz. Es waren DDR -Bürger, mit ihrer Flucht in die Botschaft der Bundesrepublik hatten sie gerade ihre Freilassung in den Westen erzwungen, und Hans-Dietrich Genscher war nicht weniger bewegt als sie über diesen
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