Lesereise Prag
den Strich bürsten. Der Heroe Dubček beispielsweise, am 21. August wie andere KP -Granden entführt, isoliert und dann in Moskau zum Kniefall gezwungen, wird weniger als Opfer gesehen denn als Versager. Er habe der Partei und dem breiten Publikum die Spannungen mit Breschnew verheimlicht. Und bis zum bitteren Ende sei er der Leninist geblieben, der er immer war.
»Dubček war Breschnews Mann in Prag«, so schreibt auch Professor Stefan Karner, der Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz, der mit Wissenschaftlern aus Tschechien, Russland und anderen Ländern ein neues Standardwerk zum »Prager Frühling« herausgebracht hat. Erstmals konnten dafür die Geheimarchive in Moskau sowie Quellen in Prag, Berlin und Washington ausgewertet werden, sodass sich neue Aspekte ergeben. Demnach genoss Alexander Dubček, der in der Sowjetunion aufgewachsen war und von Breschnew freundschaftlich »Sascha« genannt wurde, zunächst die Sympathie des Kreml, nachdem er im Januar 1968 den Prager Betonkommunisten Antonín Novotný als Parteichef gestürzt hatte. Breschnew habe nach dem Aufbrechen des Konflikts mit Dubček lange eine politische Lösung gesucht, bis hin zum legendären Treffen der Moskauer und Prager KP -Führungen Ende Juli im Klub der Eisenbahner am Bahnhof von Čierna nad Tisou in der Ostslowakei.
Eine weitere Erkenntnis jüngster Forschung ist, dass der Einfluss der »Bruderparteien«, insbesondere der KP-Führer Walter Ulbricht ( DDR ), Władysław Gomułka (Polen) und Todor Schiwkow (Bulgarien), auf die Entscheidung für den Einmarsch weit stärker war als bisher angenommen. DDR -Truppen wurden allerdings gegen Ulbrichts Willen nicht an der Invasion beteiligt, weil man den Tschechen und Slowaken mit Blick auf die Nazigräuel der Jahre 1938–1945 eine zweite Besetzung durch Deutsche in so kurzer Zeit nicht zumuten wollte. Im Ganzen war der »Prager Frühling« aus der Sicht Professor Karners trotz Invasion der »Anfang vom Ende des Ostblocks«, zwanzig Jahre später habe Michail Gorbatschows »Perestroika« das Projekt Alexander Dubčeks wieder aufgegriffen.
Das Ergebnis war der Zusammenbruch des kommunistischen Systems, und diese größere Zeitenwende von 1989 versperrt für viele Tschechen, zumal die jüngeren, den Blick zurück auf 1968. Führende Politiker der konservativen Bürgerdemokraten ( ODS ), die derzeit die Regierung und den Staatspräsidenten stellen, werten den »Prager Frühling« im Nachhinein als Marginalie der Nachkriegsgeschichte – nicht mehr als ein Kampf zweier Gruppen innerhalb der Kommunistischen Partei um die richtige Linie. »Viele Menschen erlagen dem Irrglauben an die Reformierbarkeit des Kommunismus«, sagt beispielsweise der frühere Ministerpräsident Mirek Topolánek. »Sie glaubten, der Sozialismus mit menschlichem Antlitz könne funktionieren, und ihre Desillusionierung war unheimlich.«
Nach Meinung früherer Dissidenten wie des Schriftstellers Pavel Kohout oder des Politikers Petr Pithart ist dies jedoch eine verkürzte Sicht der Dinge. »Das historische Vermächtnis des Prager Frühlings ist, dass er von der Zivilgesellschaft – damals gab es diesen Begriff allerdings gar nicht – getragen wurde«, sagt Petr Pithart, heute ein führender Christdemokrat und stellvertretender Präsident des tschechischen Senats. Tatsächlich griffen ja Studenten, Schriftsteller, Journalisten und dann massenhaft auch Arbeiter und Angestellte die Forderungen nach Demokratisierung und Besserung der Lebensverhältnisse auf und erzeugten eine ungeheure Welle politischen Engagements, das sich jedoch nie auf die Einführung des Kapitalismus richtete. Aus Pitharts Sicht bleibt darum als Lehre, »dass ohne eine starke Zivilgesellschaft die Demokratie immer gefährdet ist«.
Freilich dringen solche Botschaften kaum über die Generationen hinweg. Das Interesse der Jugend am Thema ist nach allgemeinem Urteil gering. Jakub Jareš zum Beispiel, ein junger Historiker und Politikwissenschaftler, Doktorand der Prager Karlsuniversität, kann den Ereignissen des Jahres 1968 keine Inspirationen für das bürgerschaftliche Engagement junger Menschen heute abgewinnen. Als stärksten Impuls hat er aus dem Studium des Geschehens nur die massenhafte Begeisterung der Menschen für den damaligen Aufbruch empfunden. »Aber die Begeisterung ist eigentlich kein Programm oder etwas, was man in dieser Zeit einfach wiederholen könnte«, sagt der Fünfundzwanzigjährige beim Gespräch in
Weitere Kostenlose Bücher