Lesereise Rom
regelmäßig errät ihre Freundin Laura, die Grafikerin aus der Nachbarstraße, die quasi täglich vorbeikommt, beim Eislutschen Cristinas Stimmungszustände. Gestern war sie sehr gut drauf, sagt Laura, ihr Eis war wundervoll. Und neulich hat sie gute Ratschläge gegeben für Lauras Ehekrise.
Eissalons sind Orte der kurzen Begegnung und des kleinen Vergnügens. Frauen und Männer jeden Alters und aller Klassen suchen Erfrischung an Cristinas großer Theke, in der vierundzwanzig Eissorten lagern, nach Farbe und Geschmack geordnet und laufend frisch hergestellt; Schokolade, Creme und Nuss gehen am besten. In elf Spielarten wird zudem granita offeriert, das feinteilige Wassereis, das mit Zucker und Früchten, Sirup oder Kaffee versetzt wird.
Sie suchen Rast vor diesem Schaufenster der Schleckereien, der schwitzende Mann mit der schweren Reisetasche, der senegalesische Straßenhändler, die alten Ehepaare aus dem Viertel und die Händler aus der Nachbarschaft. Mitunter füllt sich das Lokal in einer einzigen Minute, viertelstundenlang sind die vier Tischchen und die Stühle allesamt besetzt, und plötzlich ist dann wieder alles gähnend leer. Mal steht Freundin Ada, die Immobilienagentin, in der Tür und berichtet von amourösen Abenteuern, mal regt sich fluchend der Anwalt vom Haus nebenan darüber auf, dass draußen jemand das Moped seiner Tochter zur Seite geschoben hat.
Eine Kundin zeigt auf den Eisschrank, der im Raum steht, und auf Cristinas Gesicht legt sich der Schreck: Irgendwie ist das Gerät wohl ausgegangen, die Eistörtchen, die darin lagen, sind geschmolzen. »Das ist Geld«, sagt Cristina. Achtzig Euro sind verloren, allerhand bei einem Tagesumsatz von etwa zweihundertfünfzig Euro.
Radiogedudel übermalt das Rauschen der Kühlgeräte und der Klimaanlage, Fabio sitzt auf dem Barhocker und klebt Etiketten auf die Styroporbehältnisse, in denen die Leute Eis mit nach Hause nehmen. Der Neunzehnjährige hilft seiner Mutter im Geschäft, eine technische Schulausbildung hat er vorerst abgebrochen. Seine Zukunft liegt im Vagen, schwärmerisch kostet er die Privilegien der Jugend aus, ein römischer ragazzo, der stolz darauf ist, ein latino zu sein, der an dunkelhäutige Frauen denkt und der jede Nacht, wenn um 0.30 Uhr die gelateria schließt, mit seinen Freunden durch die Stadt zieht. Freund Mauro, der Kellner, ist außer Cristina der einzige Mensch, dem Fabio sein Moped leiht, nicht einmal dem eigenen Bruder würde er es geben.
Bruder Marco, mit zwanzig Jahren der Ältere, hat zur größten Zufriedenheit der Mutter soeben mit Bravour seine Ausbildung zum Werbegrafiker beendet und lebt beim Vater, der in einem anderen Stadtteil ebenfalls eine Eisdiele hat. Cristina war erst neunzehn, als sie heiratete. Länger als zwei Jahre hat sie, nachdem die Söhne geboren waren, nicht Hausfrau sein mögen. Sie arbeitete im elterlichen Hotel wie in dem Pub und der Kaffeebar, die sie später mit ihrem Mann betrieb – immer im Kontakt mit Menschen, was sie als ihren eigentlichen Beruf ansieht. Damals an der Hotelrezeption hat sie Leute vom Film getroffen, Sergio Leone, Robert De Niro und Federico Fellini. Marcello Mastroianni hat ihr den Hof gemacht, sein Foto mit Widmung hängt im Salon in der Via Bergamo an der Wand.
Auch an ihrer kühlen Theke lernt Cristina viele Männer kennen, erhält Einladungen, Telefonanrufe und – wir sind in Italien – tausend Komplimente. »Was für ein gutes Eis«, flöten die Charmeure, »von einer schönen Eisfrau hergestellt.« Neulich war ein Alter da, der sagte: »Ha, die schönen Frauen von einst, complimenti, complimenti,halten Sie sich so.« Ach, und die Männer von einst, sagt Cristina, die gibt es nicht mehr – die einer Frau den Hof machen und sie wirklich haben wollen. »Es ist sehr schwer, einen echten Mann zu finden.« Viele Männer sind verunsichert von den neuen, starken Frauen. Gestern Abend war sie aus mit jemandem, essen und am Kapitol spazieren, sehr romantisch, »vielleicht erlebe ich gerade eine neue Liebe«.
Eis zerschmilzt auf Zungen, Kühle verströmt im Raum, und im Grenadine-Glas wird sinnfällig, wie die Zeit vergangen ist. Fotos der Ahnen aus den Zeiten des »Königreichs des Eises« hängen an den Wänden, und Cristina erzählt. »Beim ersten Regen im Oktober kommt niemand mehr«, sagt sie. Dann wird sie die Leute locken mit Crêpe und brivido caldo , dem »heißen Schauer«, den sie erfunden hat: schmelzendes Eis verschiedener Sorten mit Sahne. Und diesen
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