Lesereise - Schweden
unter der Fron der Leibeigenschaft schufteten, führten sie ihre Höfe in Eigenregie. Sie lebten sehr gut von dem, was Land und Meer hergaben, und jede noch so kleine Gemeinde hatte ihr eigenes, reich verziertes Gotteshaus. Unglaubliche hundert Kirchen wurden auf der Insel zwischen dem späten 12. und dem frühen 14. Jahrhundert erbaut. Während man andernorts die Kirchengröße anhand der Einwohnerzahl bemaß, war in Gotland allein die Dicke des Geldsäckels der jeweiligen Gemeinde ausschlaggebend. Und da der überall gut gefüllt war, fassen die Gotteshäuser auf der Insel in der Regel mehr Gläubige, als der Ort Einwohner hat.
Eigentlich hätte die Insel ein kleines Paradies inmitten der Ostsee sein können. Doch die Menschen lagen miteinander im Streit. Stadt und Land – Visby und die Dörfer der Insel – waren keine Verbündeten im Kampf gegen äußere Feinde, sondern bekämpften sich gegenseitig. 1361 machte sich der dänische König Waldemar Atterdag auf, um die Insel zu erobern. Er hatte leichtes Spiel: Als er mit seiner hochgerüsteten Armee die gotländischen Bauernsoldaten niedermetzelte, kamen die Stadtbewohner ihren Landsleuten nicht zu Hilfe. Von den sicheren Wehrgängen der Stadtmauer aus sahen sie dem Blutbad tatenlos zu. Später handelten sie dann mit den Dänen die kampflose Übergabe ihrer Stadt aus und wurden von diesen im Gegenzug verschont. Außerdem sollten sie auch ihre Handelsprivilegien behalten. Unter welcher Herrschaft sie Geld verdienen konnten, war den reichen Pfeffersäcken egal.
Mit dem Einzug der Dänen begann aber der Niedergang Gotlands. Die Versprechungen, die sie den Kaufleuten gemacht hatten, hielten sie nicht ein, und so verarmte Visby in der Folgezeit ebenso wie die Dörfer. Auf grausame Weise wurden damit die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die ja so lange für Konflikte auf der Insel gesorgt hatten, aufgehoben.
1361 war das schwärzeste Jahr in der Geschichte der Insel, und es gäbe sicher schönere Anlässe, an die man Jahr für Jahr mit einem großen Fest erinnern könnte. Doch die damaligen Kämpfe liegen weit zurück und dienen heute nur noch als farbenfroher Hintergrund für das Mittelalterfestival.
Eine Woche lang geht dann die ganze Stadt auf eine Zeitreise zurück ins Mittelalter. Die Bankangestellte verwandelt sich in ein Ritterfräulein, der Lehrer in einen Knappen, und der Hausmeister wird zum dänischen Soldaten.
Lisbeth, die bei einer Versicherung arbeitet, hat wie jedes Jahr für diese Zeit Urlaub eingereicht. Das ist reine Formsache, denn auch ihr Chef und ihre Kollegen sind in Sachen Mittelalter aktiv. Anfang August bleibt das Büro geschlossen.
Die alten Häuser mit ihren Treppengiebeln bilden heute wie damals die perfekte Kulisse für das Gewusel auf den Straßen. Wortfetzen, Lachen und Kindergeschrei vermischen sich mit dem Klappern von Hufen; an der Ecke hämmert ein Schmied glühendes Eisen, daneben schlägt der Böttcher Bänder um ein Fass. In der Nebenstraße hat ein Barbier seinen Laden aufgemacht. Gut, dass wenigstens er keinen Wert auf hundertprozentige historische Authentizität legt, denn seine Kollegen im Mittelalter ließen ihre Kunden noch zur Ader und rissen ihnen eiternde Zähne. Der alte Mann, dem der Barbier gerade den Bart stutzt, kann sich also sicher fühlen.
Wenige Tage nach meiner Ankunft schlendere ich mit Lisbeth durch die Straßen. Sie bleibt mal hier, mal da stehen, prüft an den Ständen das Angebot oder fachsimpelt mit den Verkäufern. Dabei lässt sie sich Zeit. Denn eigentlich will sie vor allem gesehen werden. Sie genießt es, wenn sie mit ihrem roten Kleid auffällt. Lange genug hat sie daran gearbeitet. Im Laufe der Jahre hat sich die Neunundzwanzigjährige zu einer regelrechten Mittelalterexpertin entwickelt. Sie weiß genau, wie die Kleider damals ausgesehen haben. Mit kritischem Blick mustert sie die »Mägde«, die uns auf der Straße entgegenkommen. Wenn ich dann ein leises »Oh mein Gott« aus ihrem Mund höre, kann ich sicher sein, dass die andere gegen den Bekleidungskodex verstoßen hat, in einem billigen Fantasiekostüm unterwegs ist – oder sich schlichtweg in ein paar Details geirrt hat. Das passiert nicht, wenn man sich wie Lisbeth die Schnitte aus dem »Modehuset Medeltiden« besorgt. Dort kann man auch Kleider kaufen oder leihen. Wohl nur in wenigen anderen Städten der Welt gibt es wie in Visby ein Geschäft, das ausschließlich Mode aus der Zeit zwischen dem 11. und dem 16. Jahrhundert
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