Lesereise - Schweden
Schrank. Soll die Welt doch machen, was sie will – zumindest während unseres Urlaubs im schwedischen Ferienhaus.
Unser Haus erzählt die Geschichte seines Besitzers. Anders als beispielsweise in Dänemark, gibt es in Schweden kaum Ferienhausparks. Hier wohnt man in der Regel in einem Ferienhaus, das der Vermieter selbst nutzt, wenn er keine Gäste hat. So lebt man mitten in seinen Erinnerungen. Unser Vermieter heißt Staffan und ist Jäger. Ein riesiger Elchkopf grinst uns von der Wand an, gestickte und gemalte Elchbilder zieren die Tapete, und im Regal steht eine geschnitzte Elchfigur. Auch ein Fell liegt am Boden, das stammt allerdings von einem Rentier.
Der Kontakt zum Vermieter ist im Preis inbegriffen. Er besucht uns jeden Abend zu einem kleinen Plausch, lässt sich unseren Wein schmecken und erzählt im Gegenzug Interessantes über Abschussquoten und Jagdzeiten. Von ihm wissen wir, dass Elche nur Anfang Oktober – und auch nur in beschränkter Zahl – gejagt werden dürfen. Dann sind bei Staffan vor allem deutsche Jäger zu Gast, die den Elchkopf in der Hütte als Ansporn für die eigene Trophäenjagd sehen. Richtige Elchjäger interessierten sich aber nur für das Fleisch, und davon bringt Staffan im Laufe einer Jagdsaison siebzig bis hundert Kilo mit nach Hause. Jetzt wird uns auch klar, welchen Zweck die überdimensionierte Kühltruhe in der Küche hat. Ferienhäuser in Schweden verraten eben viel über ihre Besitzer.
Für die Einheimischen ist der allsommerliche Umzug ins Sommerhaus eine Art Ritual, das einfach nicht wegzudenken ist. Jeder fünfte Schwede besitzt ein Sommerhaus. Und die übrigen schlüpfen bei den Eltern, beim Bruder, bei der Schwester oder dem Freund unter. Wer sein Haus an Touristen vermietet, bietet ihnen allen Luxus. Auch unser Haus ist neben dem kaltgestellten Fernseher mit Kühlschrank, Mikrowelle und sogar Sauna ausgestattet. Die meisten Schweden aber ziehen Einfachheit in den Ferien vor. Sind auch gerne bereit, das Wasser aus dem nahen See zu schöpfen – Trinkwasserqualität ist garantiert. Und wozu braucht man elektrisches Licht, wenn die Sonne ohnehin nicht untergeht? Gekocht wird auf dem Holzofen, und als Toilette dient ein Plumpsklo, das in diskretem Abstand im Wald versteckt steht. Gerade der Verzicht macht den Reiz aus. Einer meiner schwedischen Freunde besitzt ein Ferienhaus, das nur zehn Autominuten von seiner Wohnung entfernt liegt. Mitte Juni zieht er mit Frau und Kind in den Wald um. Dort lebt er zwei Monate lang ein einfaches Leben. In seine Stadtwohnung fährt er auch dann nicht zurück, wenn es draußen schüttet und es in seiner Hütte empfindlich kalt wird.
Warum er denn nicht wenigstens eine warme Dusche einbaue, frage ich ihn. Er blickt mich verständnislos an und sagt dann nur: »Dann wäre es doch kein Urlaub mehr.«
Burgfräulein und stolze Ritter
Beim Mittelalterfestival in Visby
Lisbeth sitzt konzentriert an ihrer Nähmaschine. Den Kopf hat sie tief über den Stoff gebeugt, die Nadel flitzt hin und her. Lisbeth arbeitet an dem Kleid für ihren großen Auftritt. Anfang August ist es so weit – dann feiert die ganze Stadt mit ihr. Nein, Lisbeth wird nicht heiraten. Wie Tausende andere in Visby bereitet sie sich auf das alljährliche Mittelalterfest vor.
Visby zählt zweiundzwanzigtausend Einwohner und ist die Hauptstadt Gotlands. »Sonneninsel« nennen sie die Schweden, oder auch »Insel der Rosen«, weil das Klima so mild ist wie nirgendwo sonst im Drei-Kronen-Reich. Hier verbringt der König jedes Jahr seinen Urlaub, und die Politikprominenz aus Stockholm trifft sich an diesem Ort immer im Juli zu »Sommergesprächen«.
Gotland ist aber auch die Ferieninsel der »normalen« Schweden. Die Jungen machen hier die ohnehin kurzen Sommernächte zum Tage, und die Älteren verleben entspannte Wochen im Ferienhaus. Die Saison ist jedoch kurz, und weil Industrie fehlt, zählt Gotland zu den ärmeren Regionen Schwedens. Vor sechshundertfünfzig Jahren, im Mittelalter, war das anders. Damals gehörte Visby zu den reichsten Städten Europas. Die Stadt war der ideale Stützpunkt für die deutschen Kaufleute der Hanse, um von hier aus den Handel mit Russland zu betreiben.
Damals musste an nichts gespart werden. Diesen einstigen Reichtum sieht man Visby noch heute an. Hinter der dreieinhalb Kilometer langen Stadtmauer drängen sich edle Bürgerhäuser eng aneinander. Selbst die Bauern waren wohlhabend. Während ihre »Kollegen« in Süd- und Mitteleuropa
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