Lesereise Schweiz
einschlägigen Plätze zwangsgeräumt wurden. Was von der Drogenszene übrig blieb, verlagerte sich zur Langstraße, dem Zentrum der Zürcher Kultur- und Nachtszene. »Rotlichtviertel« ist einer seiner vielen Namen, und in der sündigen Langstraße prallen Gegensätze aufeinander. Die staatlich kontrollierte Heroinabgabe trug dazu bei, die Situation zu entschärfen. Das Volk segnete das per Abstimmung ab. »Fortschrittlich, oder?« Beat lacht und schwingt die weiße Sonnenbrille zum Abmarsch, immer westwärts.
An der Hardstraße mündet die zweieinhalb Kilometer lange Josefstraße ins Quartier: Zürich-West. »Das ist die Vorhölle«, diagnostiziert Beat, der Nachtschwärmer. Jedes Wochenende überschwemmen zwanzigtausend Menschen das Trendviertel mit zig »In«-Clubs, Szene-Bars und Restaurants. Wenn man von der Josefstraße mit seiner Wohnzimmeratmosphäre kommt, fühlt man sich wie auf einem anderen Stern. Hochmoderne Wolkenkratzer aus Glas und Stahl mischen sich mit neoklassizistischen Fabrikgebäuden aus Backstein. Was einst eine abgewirtschaftete Industriebrache war, mauserte sich zur weitläufigen Stadtentwicklungszone mit Technopark, Hotels, Büros, Gewerbebetrieben und Wohnungen. Wo Fabriken der Dampf ausgegangen war, öffnete sich Ende des 20. Jahrhunderts ein weites Experimentierfeld. Immobilienhaie und städtisches Hochbauamt kämpften um das hundert Hektar große Gelände. Die Stadt suchte damals nach einem Ausweg aus dem Teufelskreis: unbezahlbare Mieten, fehlender Büroraum und drohende Verslummung einiger Stadtkreise. Eine Änderung der Bauordnung und staatliche Förderkonzepte waren 1998 der Countdown für die Neugestaltung auf dem Escher-Wyss-Areal. Plötzlich schossen Lofts, Ateliers, Fernsehstudios, Bühnen, Sushi-Bars, Lounge-Bars, Clubs und Dance-Factories wie Pilze aus dem Boden. Ein völlig neuer Stadtteil entstand, ein Stadtteil der Avantgarde. Wo früher die Menschen in den Fabriken schufteten, leben sie nun in modernen Wohnungen in den denkmalgeschützten Gebäuden wie in der einstigen Seifensiederei Steinfels oder der ehemaligen Gießerei-Halle in Oerlikon. In die alte Kesselschmiede der ehemaligen Schiffswerft Escher Wyss zogen das Schauspielhaus, ein Jazzclub und Gastronomie ein, in die frühere Toni-Molkerei die Kunsthochschule.
Der Boom von Zürich-West fiel zeitlich mit der Liberalisierung des Gaststättengesetzes zusammen. »Vor 1997 war praktisch jede Party illegal«, erinnert Beat sich. Alles war reglementiert, aber im Verborgenen brodelte eine aktive Subkultur. Als die Polizeistunde endlich aufgehoben und die Wirtegesetze gelockert wurden, gab es eine Art Urknall. Das Vakuum entfesselte einen Sog, als hätte jemand anderswo den Stöpsel aus der Badewanne gezogen. »Das war wie eine kleine Revolution. Blitzschnell war der Dornröschenschlaf beendet.« Langsam zeigte auch das erklärte Ziel der Stadtväter Wirkung, Zürich zu einer »Lebensstadt« zu machen, um das ungeliebte Image als »Bankenstadt« abzulegen. Die Lebensqualität machte einen Riesensprung. Wenig später, im Jahr 2002, landete Zürich erstmals auf Platz eins der Mercer-Studie als lebenswerteste Stadt der Welt. Sieben Jahre in Folge behauptete sie die Stellung, ehe Wien sie 2009 verdrängte.
»Wir haben italienische Verhältnisse.« Darauf kann man stolz sein. Wenn das Frühjahr kommt, stellen die Zürcher die innere Uhr um. »Ab Mai herrscht bei uns Freizeitklima.« Beat steuert auf die Hardbrücke zu, unter der die Limmat fließt. Ein paar Stufen, und wir sind auf dem begrünten Promenadenweg, der den Fluss fast bis zur Quaibrücke begleitet, wo er den Zürichsee verlässt. Wenige Gehminuten später wächst ein riesiges Stelzenquadrat aus dem Fluss, das Flussbad »Unterer Letten«. Das ist der Moment, auf den er gewartet hat. Der Moment des Triumphs. Denn hier zeigt es sich wieder, das Zürich der Möglichkeiten. Es ist ein Schwimmbad mitten im Fluss, bevölkert von ungezählten Freizeit-Zürchern. Überall liegen die Menschen lässig in der Sonne, zeigen Körper, essen Eis oder trinken eine Schweizer Rivella-Limonade. Auf der Uferterrasse und den Stegen liegen so viele Badetücher, dass zum Gehen kaum Platz ist. Der Kontrast zum hektischen Paradeplatz, zum Zürich der Wirtschaftsdaten, der Nummernkonten und Designershops könnte nicht krasser sein. Die Klischees über das spröde, unnahbare Zürich sind fern, irgendwo kilometerweit weg an der Bahnhofsstraße.
Das lange Badehaus vom »Unteren Letten«
Weitere Kostenlose Bücher