Lesereise Schweiz
aufeinander. Hochkarätige Teams und nur drei Spiele, weil Zürichs Bauvorhaben einer neuen Arena durch eine Bürgerinitiative gestoppt worden war. Wer mag der Schweizer Demokratie schon böse sein. Nicht Hauptstadt, nicht Regierungssitz, aber ganz vorn bei Wirtschaftsdaten, Luxusläden und Sprüngli-Pralinés. Und somit die größte und die heimliche Hautstadt Helvetiens. Der Finanzplatz am Zürichsee ist das Zuhause der Diskretion und Drehkreuz für rund ein Drittel des weltweiten grenzüberschreitend angelegten Privatvermögens – wer weiß, wie lange noch. Merkmale sind markante Kirchtürme, verschachtelte Altstadtgassen, Zunfthäuser mit verschnörkelten Erkern und Lokale, die Züri Geschnätzlets und Röschti servieren. Weltoffen nach allen Seiten, Heimat und Exil für Intellektuelle, Dichter, Künstler und Revolutionäre. Die berühmten Namen von Reformator Zwingli, dem Pädagogen Pestalozzi, dem Dichter Gottfried Keller, Professor Einstein oder dem Revolutionär Lenin sind an vielen Fassaden präsent. Zürichs Herz ist einerseits brav und sparsam, der Puls andererseits flippig und schräg. An der Limmat werden für Schweizer Verhältnisse Maßstäbe gesetzt bei Lifestyle, schicken Modetrends und spleenigen Kunstszenen. Züri-West ist das angesagteste Quartier. Wer außer Großstadtluft Natur atmen will, geht an den See, in den unberührten Sihlwald oder auf den Uetliberg, einen der schönsten Aussichtspunkte für die schneebedeckte Alpenwelt.
Ja, die Europameisterschaft ist vorbei. Die Schweiz war recht bald aus dem Fußballhimmel vertrieben. Aber damit hatte man ja gerechnet. Vielleicht nicht so schnell, noch vor dem Viertelfinale. Verletzungen der Spieler, nicht gegebene Elfmeter und Dauerregen: Die Götter waren den Eidgenossen nicht gnädig. Dennoch bewahrte sich der nach der EM ausgeschiedene Nationaltrainer Jakob (Köbi) Kuhn seinen Galgenhumor. Die Schweiz werde wahrscheinlich bestehen bleiben, trotz des Ausscheidens. Und auch das Plus.
West Side Story
Der Schauspieler Beat Schlatter zeigt sein Zürich
Er sitzt im roten Designersofa, und er ist der einzige in der Lounge. Der Mann mit dem verschmitzten Lächeln trägt ein dunkelblaues Sakko, ein hellblaues Hemd, Jeans und hellbraune Lederschuhe – ohne Socken. »Gut gerüstet für unseren Stadtspaziergang?«, frage ich. Beat Schlatter legt die weiße Sonnenbrille ab, fährt mit der Hand durch das dunkle Haar und lacht: »Aber sicher!« Dabei rollt er das »r« auf diese wunderbar sanfte schweizerische Art und formt es im Gaumen zu einer Sahnetrüffel.
Beat Schlatter ist Schauspieler und einer der bekanntesten Kabarettisten in der Schweiz. Wir treffen uns in einem kleinen sympathischen Stadthotel am Rande der Altstadt. Er will mir seine Stadt zeigen, und er bemüht sich, Hochdeutsch mit mir zu sprechen. »Zürich ist die attraktivste Stadt der Welt, aber manchmal schäme ich mich, weil sie so teuer ist«, sagt er und stellt gleich klar, dass es ihn nicht zur mondänen Bahnhofsstraße zieht. »Langweilig!« Und das ist ein K.-o.-Kriterium. Langweilig, bieder, prüde, konservativ. Das Zürich der Banken am Paradeplatz, der Sprüngli-Confiserie und der überteuerten Luxusboutiquen, das interessiert ihn nicht. Obwohl für viele genau das der Inbegriff der Stadt an der Limmat ist. Ein Image, das an ihr haftet wie Kaugummi an der Sohle. Beat lehnt sich ins rote Polster zurück. »Zürich hat viele Gesichter.« Er blickt zufrieden. »Sein« Zürich ist die dynamische Kulturstadt, die ausgeflippte Erlebnismetropole, die Stadt der Möglichkeiten, der Vielfalt – ja eine Weltstadt wie New York, nur ungefähr zweiundzwanzig mal kleiner. »Möglichkeiten hast du fast das ganze Jahr: Frühjahr, Sommer und Herbst.« Ein Zürcher braucht keine Ferien, es sei denn im Winter, wenn sich draußen statt der Kaffeehausstühle Schnee und Eis türmen.
Es ist ein sonniger Tag. Beat trinkt noch zwei Espressi und plaudert über das Leben in seiner erklärten Lieblingsstadt, in der er aufwuchs. »Der Zürcher redet viel und kommt nie auf den Punkt«, bricht Beat plötzlich ab. »Das ist wieder typisch.« Das Signal zum Aufbruch. Zuerst will er sein »Wohndorf« zeigen, das Niederdorf, das zu den ältesten Quartieren gehört. Die Altstadt verläuft links- und rechtsseits der Limmat, wo sie mit markanten Kirchtürmen von Großmünster, Fraumünster und St. Peter glänzt, mit engen verwinkelten Gassen, prächtigen Zunfthäusern und Lokalen, die den Touristen Zürcher
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