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Lesereise Schweiz

Lesereise Schweiz

Titel: Lesereise Schweiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Schuemmann
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Spezialitäten servieren. Die Leute kennen ihn hier als Nachbarn oder Schauspieler, nicken ihm freundlich zu. Zum Inventar seines Zuhauses gehören die vielen kleinen Läden, etwa die »Kolonialwaren Schwarzenbach« in der Münstergasse, wo der Hobbykoch einkauft, und in der Napfgasse das »Café Schober« mit der herrlich nostalgischen Einrichtung. Abends geht er auf ein Glas Wein ins Restaurant »Bodega Española«, und wenn nachts der Magen knurrt, killt er das Biest mit einem Tartar im Künstlertreff »Odeon«. Der Morgen beginnt im skurrilen »Schlauch« mit Espresso und Zeitungslektüre.
    Fast wäre er in der Spiegelgasse am »Cabaret Voltaire« vorbeigelaufen. Fast. Denn das ist ihm wichtig. Kabarett, das ist Bewusstseinsschärfung. Vor gut hundert Jahren kam die spleenige Politkneipe auf, gegründet 1919 von den Dadaisten als »Tummelplatz verrückter Emotionen und Hokuspokus«. Dann wurde sie vergessen und erst im Jahr 2004 zu neuem Leben wiedererweckt. Das Dada-Haus erzählt vom Zürich der Weltkriege, das zahlreichen politischen und religiösen Flüchtlingen Zuflucht bot. Die Stadt pulsierte, stieg zu einem geistigen Zentrum Europas auf: mit Literaten wie Hans Arp, Hugo Ball, Hermann Hesse oder Thomas Mann. Die Zeiten sind vorbei, doch die witzigen Kritzeleien an den Wänden, der alte Kamin, Galerie und Weinkeller blieben.
    Beat fährt Fahrrad oder geht zu Fuß. Für ihn ist es ein Luxus, kein Auto zu haben. »Eine Befreiung von Nervenzusammenbrüchen.« Deshalb nehmen wir am Ende der Niederdorfstraße das Tram. Bitte schön: das Tram, wenn du die Straßenbahn meinst. Wir fahren bis zum Hauptbahnhof, wo Alfred Escher in Patinagrün prominent auf einem Sockel steht. Weltberühmte Namen kursieren in Zürich viele, doch dieses ist das womöglich einzige richtige Monument, das die Zürcher einer denk-mal- und erinnerungswerten Zürcher Persönlichkeit gewidmet haben. Beat fällt kein anderes ein. Entfernt erinnert eine Schrifttafel am nichtssagenden Rosenhof-Brunnen an den herausragenden Schriftsteller Max Frisch. Gottfried Kellers Kopf, Stadtschreiber und Dichter, ragt aus einem leicht übersehbaren grauen Steinquader an der Seepromenade, die Miniaturstatue des Pädagogen Pestalozzi verschwindet im Grün einer Parkanlage und das Standbild des Zürcher Reformators Zwingli ist kaum auffindbar im Rücken der Wasserkirche. Die bedeutenden Köpfe Zürichs haben etwas Einsames. »Vielleicht braucht Zürich keine Helden«, rätselt Beat. Und Vergangenheit braucht Zürich auch nicht, weil die Bewohner in der Gegenwart leben. Mit dem Wirtschaftspionier Escher, der vor dem eigenen Werk thront, muss das anders sein. Immerhin verdankt ihm Zürich einen der schönsten Bahnhöfe Europas und das beste europäische Eisenbahnnetz.
    Jenseits des Hauptbahnhofs, wo hinter der Zollbrücke die Josefstraße abzweigt, biegen wir ein. »Kreis 5«, verkündet mein Begleiter knapp, und er sagt damit viel, weil in Zürich alles gut geordnet und eingeteilt ist. Der Kreis zwischen Bahngleisen und Sihlquai, der bekannteste Kreis, vielleicht der unruhigste, aber auch der menschlichste. Wenige Meter vom Bahnhof entfernt, erfährt man den Quantensprung. Plötzlich tut sich ein lebendiges, multikulturelles Viertel auf, wo sich Junge und Alte, Arme und Nicht-Arme tummeln. Eine schillernde, quirlige Wohngegend, ganz nach Beats Gusto. Das Arbeiterviertel aus der Jahrhundertwende zeigt sich als Territorium mit eigenständigem Brauchtum. Es durchmischte sich, als günstiger Wohnraum verknappte und die Jugend ins Quartier drängte. Für die Innenstadt war das ein Aderlass, für den fünften Kreis eine Vitaminspritze. An jeder Ecke findet man originelle Designerläden oder gut sortierte Buchhandlungen, kleine Cafés, Restaurants für alle Geschmacksrichtungen, türkische Gemüsehändler, Tante-Emma-Läden, Wohnungen und Grundschulen, Gärten und Parks. »Hier kann man leben!«, bringt es Beat auf den Punkt.
    Schnell noch mal hierhin und dorthin. Die Sohlen dampfen. Es gibt so viel zu sehen. Bist du ein Arbeitstier? »Wenn ich arbeite, dann ja.« Beat braucht einen Stärkungsespresso, natürlich im »Caredda«, seinem Lieblingscafé. Wir sitzen auf der Straße und beobachten Kids auf Rollerblades, plauschende Nachbarn und die graue Katze, die um den Baum streicht. Beat erinnert sich an die Drogenszene der achtziger Jahre. »Das war gigantisch, fand weltweit nicht seinesgleichen und schien politisch kaum lösbar.« Bis in den neunziger Jahren die

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