Lesereise Sizilien
wie man es in unzähligen Filmen gesehen hat: Ein kleiner Raum, alle essen spaghetti, alle reden wild durcheinander. Kommunion in einem weißen Kleid, Verlobung, Hochzeit in jungfräulichem Weiß sind noch immer die bedeutendsten Ereignisse im Leben einer sizilianischen Familie und sie finden nicht in kleinem Kreis statt, sondern versammeln mehr als hundert Personen zum Festmahl. Das Festlokal muss angemessen sein, das Menü üppig, die Festteilnehmer erwarten Gegengeschenke. Wenn die eigene Tochter unter die Haube kommt, verschulden sich Familien auf Jahre hinaus, angefangen bei der standesgemäßen Kleidung, schließlich muss man einen guten Eindruck machen. Fare una bella figura! Auch der Tod ist eine Sache der Ehre und des Eindruck-Schindens. Man muss den Toten würdigen, mit Prunk bestatten, auch wenn man es sich gar nicht leisten kann, zu groß ist die Angst vor dem Stigma der Armut. La famiglia ist das soziale Netz der Sizilianer. Solange es die Großfamilie gibt, muss sich keiner Sorgen um ein Dach über dem Kopf oder eine warme Mahlzeit machen.
Mittelpunkt der famiglia ist die Frau. Dienerin des Mannes, Herrscherin über die Kinder, überwacht von den Brüdern, negiert von den Vätern, eingesperrt im Haus. Schwarz gekleidet und matronenhaft huscht sie mit bedecktem Kopf durch die Gassen, verschwindet dann hinter einer Tür. Die Frau im Haus, der Mann auf der Straße, der Mann an der Theke, die Frau höchstens hinter dem Tresen, der Mann beim Kartenspiel, die Frau in der Kirche. Frauen versteckt, behütet, dazu da, viele Kinder zu bekommen, ein sauberes Heim zu halten und einen gefüllten Kochtopf zu bescheren. Männer, die mit der lupara, der Schrotflinte der Bauern, die Ehre eines Mädchens wiederherstellen, blutige Leintücher, die als Beweis der Jungfräulichkeit aus den Fenstern gehängt werden. Alles Legenden.
Die Insel wirkt maskulin dominiert, doch eigentlich ist sie fest in weiblicher Hand. Schon Anfang der siebziger Jahre erstritten die Frauen des Südens gegen den Willen der Kirche das Recht auf Scheidung. Es gibt inzwischen Bürgermeisterinnen, Besitzerinnen von Computerfirmen, Staatsanwältinnen, Polizistinnen. Frauen kämpfen im Verband »Donne siciliane per la lotta contro la Mafia« gegen das organisierte Verbrechen, machen sich in Stadtparlamenten stark. Die regionale Politik allerdings ist immer noch Männersache.
La donna beherrscht die Insel. Vor allem als Mutter. Mit der Geburt eines Kindes – bevorzugt eines Sohnes – erreicht sie den Heiligenstand und manifestiert ihre Überlegenheit. Die Erziehung, die Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Verhaltensregeln liegt in ihrer Hand. Die Frau entscheidet über die Probleme des Alltags, für die anderen Nebensächlichkeiten sind die Männer zuständig. Der Mann als Familienvorstand hat sich um die Sicherung des Auskommens, sie sich um die Wahrung der Achtung und die Erziehung, die sich an traditionellen Normen orientiert, zu kümmern. Ihr Einfluss auf die Erziehung der Kinder ist stärker, als dies aufgrund ihres Auftretens in der Öffentlichkeit scheint. Sie herrscht als freundliche Diktatorin über ihre Lieben. Als tragende Säule genießt sie Hochachtung und Verehrung und ist unantastbar. In ihrer Anwesenheit wird tunlichst nicht geflucht, es werden keine schmutzigen Witze erzählt. Dafür ist sie tolerant und voller Respekt gegenüber ihrem Mann. Selbst beim Seitensprung wird nicht gleich das Messer gezückt. Als Mann kann so was schon mal passieren. Passiert’s allerdings ihr, ist es vorbei mit Respekt und Heiligkeit.
Geht man mit offenen Augen durch Sizilien, entdeckt man, wie die Rolle der Frau schon von frühester Kindheit an bestimmt wird: Kleine Mädchen schieben Kinderwagen, schleppen Babys rum, sitzen neben ihren Großmüttern mit gehäkelten Umhängen vor der Haustür, stricken oder sticken und lernen schon früh, was man als Frau zu tun hat. So werden Rollenbilder angelegt. Obwohl Medien, Bildung und Tourismus langsam ihre Spuren zeigen, dreht sich auf dem Land die sizilianische Welt noch immer um Familie, Dorf und mamma.
Die Arbeit im Haus jedoch wird nicht als etwas Ehrenrühriges angesehen, sondern steht in der gesellschaftlichen Rangordnung auf einer Stufe mit jedem Erwerbsjob. Und sie tun’s gern.
Der autobiografische, emanzipatorische Roman »Ich wollte Hosen« von Lara Cardella über ein sizilianisches Kaff, verklemmte Eltern und sexuelle Machtspiele des Onkels hob 1990 die Welt der Machos aus den Fugen. Lara,
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