Lesereise Sizilien
Papyrus Europas.
Syrakus früher: das New York der Antike. Das Zentrum des Mittelmeers. Die mächtigste Kapitale der westlichen Welt. Reichtum und Kultur. Eine Megastadt. Im 5. Jahrhundert lebten in Syrakus fünfhunderttausend Menschen, Athen hatte nicht halb so viele Einwohner. Und alles begann mit einer Nymphe namens Arethusa, sagt die Legende. Das Nymphchen floh vor dem aufdringlichen Jäger Alpheios auf die Insel Ortygia bei Syrakus und stürzte sich dort verzweifelt ins Ägäische Meer. Die Göttin Artemis plagte das Mitleid und sie verwandelte die Nymphe in eine Quelle. Der Jäger ließ nicht locker, wurde zum Fluss und verfolgte Arethusa weiter. Auf Ortygia vermischte er sich mit dem Objekt seiner Begierde. Es soll diese Süßwasserquelle gewesen sein, die schon bald Siedler nach Syrakus zog. Außerdem bot die durch die Insel geschützte Bucht einen sicheren Hafen. Um 733 vor Christus wurde Syrakus von Korinth als Apoikai gegründet und entwickelte sich rasch zur größten griechischen Kolonie auf der Insel. Die Stadt gedieh sehr gut, nicht zuletzt wegen der Tatkraft der von den Griechen unterworfenen einheimischen Bevölkerung, über die eine Gruppe Adeliger herrschte. Gelon von Gela wurde 485 vor Christus König. Unter ihm und vor allem unter seinem Nachfolger Hieron I. entwickelte sich Syrakus zum wirtschaftlichen, politischen, aber auch wissenschaftlichen und kulturellen Zentrum des antiken Sizilien. Die Tyrannen kamen und gingen, der berühmteste unter ihnen war Dionysios I., der achtunddreißig Jahre lang regierte. Am Hof von Syrakus’ Tyrannen, die zeitweilig nicht nur Sizilien, sondern auch die meisten der griechischen Stadtstaaten auf dem süditalienischen Festland beherrschten, versammelten sich die berühmtesten Philosophen und Dichter der gesamten griechischen Welt. Platon scheiterte hier mit dem Versuch eines Idealstaates, Aischylos brachte hier und nicht in Athen viele seiner Dramen erstmals vor das Publikum.
Archimedes, der etwa 287 bis 212 vor Christus auf Sizilien lebte, war der wohl bedeutendste Wissenschaftler der Antike. Er hinterließ verschiedene mathematische Traktate über komplexe geometrische Figuren – vom Zylinder über Kreise, Kugeln, Spiralen bis zu Kegelschnitten. Er berechnete die Kreiszahl Pi mit einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit. Er schuf sogar ein Planetarium, in welchem er die Bewegung der Sterne nachvollziehen konnte. Bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer wurde er, trotz anders lautender Befehle, von einem römischen Soldaten getötet, erzählt die Überlieferung. Der Soldat soll zu ungeduldig gewesen sein und wollte Archimedes seine Aufgabe nicht zu Ende lösen lassen: »Noli turbare circulos meos«, störe meine Kreise nicht, sollen Archimedes’ letzte Worte gewesen sein. Als eine der wohl bedeutendsten wissenschaftlichen Schriften, die je versteigert wurden, bot das Auktionshaus Christie’s in New York vor einigen Jahren das »Archimedes-Palimpsest« an – eine überschriebene byzantinische Pergamenthandschrift des 10. Jahrhunderts mit hundertvierundsiebzig Blättern, das früheste Werk über die Arbeiten des Archimedes und die einzige erhaltene Quelle des originalen griechischen Textes seiner Abhandlung über schwimmende Körper. Der Text kann nur teilweise mit bloßem Auge gelesen werden, aber gefiltertes UV -Licht macht alles erkennbar. Klingt nicht so spannend? Von wegen! Der Wert der Handschrift wurde auf rund eine Million Dollar geschätzt.
Zurück nach Syrakus: Mit den Römern kam der Untergang. Im Ersten Punischen Krieg stand die Stadt auf der Seite von Rom, im Zweiten auf der Karthagos. Die Römer eroberten Sizilien und nach längerer Belagerung auch Syrakus, das sie zur Residenz ihrer Statthalter über die Provincia Sicilia machten. Die Statthalter schätzten die griechische Kunst so sehr, dass sie so viel wie möglich davon rasch nach Rom schaffen ließen. Einmal wehrte sich Syrakus: Es nahm sich den besten Anwalt Roms, keinen Geringeren als Cicero, und klagte auf Herausgabe der Kunstschätze. Wohl eher mit mäßigem Erfolg. Von den Römern ausgeplündert, verlor die Stadt ihren Glanz. Nach dem Niedergang Roms teilte Syrakus das Schicksal der restlichen Insel, wurde, von Eroberern besetzt, zum Spielball der Mächtigen. In frühchristlicher Zeit taucht die Stadt noch einmal in den Annalen auf: Sie beherbergte eine bedeutende christliche Gemeinde, die sich in den Katakomben von San Giovanni traf. Auch der Apostel Paulus soll dort
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