Lesereise Sizilien
Ernte und Pressung dürfen nicht mehr als drei Tage liegen. Jede Stunde, die die Oliven im Laster bleiben, verlieren sie an Geschmack, erklärt Domenico.
Er führt uns mit stolzgeschwellter Brust durch seinen frantoio, die Ölmühle. Im Keller stehen riesengroße Mahlsteine, mit deren Hilfe die knackigen Früchtchen gepresst werden. Im Moment steht alles still. Öl-Zeit ist im November. Er wartet den Moment des Farbwechsels ab, die Tage, an denen sich die Oliven verfärben. Wenn sie kalt und beschlagen vom Tau an den Zweigen hängen. Domenicos Öl trägt alle Gütesiegel. Domenicos Öl ist reiner, als es sämtliche Reinheitsgebote verlangen. Ist nicht extra vergine extra vergine? Nein, verrät Domenico. Selbst minderwertigstes Öl lässt sich so lange waschen, bis es schließlich extra vergine heißen darf, aber ganz anders schmeckt. Es geht um den Säuregehalt. Alles, was unter 1,0 liegt, darf sich extra vergine nennen. Domenicos liegt bei 0,3 – geradezu perfekt, sagt Domenico und gibt zu bedenken, dass gutes Öl viel schwerer herzustellen ist als guter Wein. Kostprobe gefällig? Wir sollen ein Schlückchen nehmen. Ein Schlückchen Olivenöl? Ohne alles. Ihh!! Na gut. Es schmeckt mild, frisch, ein wenig nach Artischocke und macht Hunger auf mehr. Es ist um die Mittagszeit und aus der Küche neben der Ölkantine steigt ein verführerischer Duft.
Wir speisen in der kleinen trattoria gleich um die Ecke von Domenico, der sindaco hat uns den Tipp gegeben. Die Bikes schieben wir, denn es geht auf zerklüftetem Kopfsteinplaster ziemlich steil bergauf. Unter den Gewölbedecken der trattoria machen wir es uns auf den schmiedeeisernen Stühlen hinter einem langen Eichenholztisch bequem, Luisa, eine dunkelhaarige Schöne und die Tochter des Besitzers, holt den hauseigenen vino aus dem Keller. Das Lokal ist winzig, öffnet eigentlich nur, wenn genug Gäste kommen, dazu muss man sich vorher rechtzeitig anmelden. Man bestellt auch nicht, man bekommt das zu essen, was es gibt. Wir bekommen dicke, handgerollte Nudeln mit drei verschiedenen Saucen und cinghiale, mit Kräutern gefüllten Wildschweinbraten, selbst erlegt vom Vater, sagt Luisa. Nach der Vorspeise klingelt das Handy des Bürgermeisters Sturm. Dringende Dorfgeschäfte!
Mamma und Madonna
Die Rolle der Frau in der Macho-Gesellschaft
Cecilia ist Rechtsanwältin in Catania, ein anstrengender Job, gerade hier. Sie verteidigt schwere Jungs und leichte Mädchen. Doch das ist nicht das, was Nerven kostet. Es sind die täglichen kleinen Scharmützel, die sie mit Klienten auszufechten hat. Den »Signore Avvocato« wollen die sprechen, wenn ihnen Cecilia gegenübersitzt. So wie sie jetzt vor mir sitzt in ihrem modernen Büro, das sie in einer Anwaltsgemeinschaft in der Innenstadt von Catania gemietet hat. Blass, zart, dunkle Schatten unter ihren Augen, die von Überstunden erzählen, mit übereinandergeschlagenen Beinen im engen beigen Hosenanzug. Sie spitzt den Mund und saugt an ihrer Marlboro Light.
Das ist die eine Cecilia. Sie stammt aus einem Dorf im Inselinneren und wenn sie an jedem zweiten Wochenende nach Hause zu ihrer Familie fährt, zeigt sie ihr zweites Gesicht. Sie verändert sich, schon äußerlich. Sie trägt weite Röcke, keine Spur mehr von Make-up, die High Heels lässt sie in Catania. Marlboro hat sie natürlich auch nicht dabei, sie dreht schon bei Zigarettenwerbung demonstrativ entrüstet den Kopf weg. Sie hilft der Mutter beim Gemüseputzen in der Küche, bedient Vater und Brüder, trägt ihnen sogar die Pantoffeln nach, wenn es gewünscht wird. Die Abende verbringt sie im Schoße der Familie und stickt an einer Tischdecke. Das ist die andere Cecilia. Der schlechte Ruf einer Tochter ist gleichbedeutend mit dem schlechten Ruf einer Familie. Genau darin liegt der Grund, warum selbst progressive Söhne und Töchter den Schritt zur Aufkündigung der Loyalität diesem althergebrachten System gegenüber nicht wagen. Einzelgängertum würde zu einer Schädigung des Ansehens der ganzen Familie führen. Cecilias Vater ist es vollkommen egal, dass seine Tochter erfolgreiche Anwältin ist und viel Geld verdient. Es zählt nicht. Viel lieber würde er endlich hören, dass Cecilia unter die Haube kommt. Noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg durften unverheiratete Frauen nicht einmal die piazza überqueren.
La famiglia heißt das Zauberwort und steht noch über Recht und Ordnung, sie ist ein staatsfreier Raum. In sizilianischen Familien geht es bis heute genauso zu,
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