Lesereise Sizilien
den beides gilt.
Ein Paradies, das Leben kennt hier keine Hast. Die Gegend scheint wie von einem harmoniesüchtigen Bildhauer gemacht, die Natur überwältigt alles, Augen, Nase, Gaumen.
»Guarda!« Matteo deutet aufgeregt zum Meer. Eine Mönchsrobbe, eine bue marino, habe er gesehen, behauptet er. Ich bemühe mich, der von ihm angezeigten Richtung zu folgen, kann aber außer einem Fischer, der in seiner Nussschale lautlos auf dem Wasser treibt, nicht viel entdecken. Eigentlich sind die Tiere so gut wie ausgestorben, doch im Naturpark Zingaro sollen sie noch vereinzelt vorkommen.
Über die Klippen wächst ein grüner Teppich hinauf, Pinien, Oliven- und Johannisbrotbäume, Steineichen, Eukalyptus, Ginster. Es duftet nach Oregano, Rosmarin. Am Wegesrand blühen Rosmarin und wilder Kümmel, dazwischen tanzen bunte Schmetterlinge. Laut zirpen die Grillen, ab und zu probt eine zanzara, eine fiese Stechmücke, einen Angriff.
Die Sonne brennt vom Himmel, es ist höllisch heiß und ich bin dankbar für meinen breitkrempigen Sonnenhut – nicht sehr elegant, aber sehr nützlich.
»Hier, schau!« Fabio präsentiert mir eine Besonderheit des Parks, die Zwergpalme, die einzige einheimische Palme Europas, alle anderen wurden eingeführt. Dieses Prachtexemplar einer palma nana streckt sich über zwei Meter in die Höhe, normalerweise ist die buschartige Pflanze eher kleiner – wie der Name schon vermuten lässt. Die Blätter der Zwergpalme wurden früher zu Körben und Seilen geflochten. Jede Menge fleischige Feigenkakteen strecken uns ihre stacheligen Arme zum Gruß entgegen. Und halten uns ihre herrlichen, süßen dunkelorangen oder hellroten Früchte direkt unter die Nase. Ich muss eine probieren und will danach greifen. »Halt, Madonna Santa!«, schreit Fabio so laut, dass es bestimmt selbst auf der Nachbarinsel Pantelleria noch zu hören ist. »Vorsicht!« Die süßen Früchte, fichi d’india heißen sie, werden von winzigen, aber sehr lästigen Stacheln geschützt. Das gemeine sind die ganz feinen Stacheln. Hat man diese Biester erst einmal in den Fingern, bekommt man sie nur schwerlich wieder los. Und sie beschränken sich nicht auf die Finger, sondern sind plötzlich überall. Daher werden die Kakteenfrüchte mit aller Vorsicht geerntet und mit langen Stangen abgeschlagen. In einem Eimer mit Wasser transportiert man sie am besten nach Hause und bearbeitet sie dort unter fließendem Wasser mit Handschuhen oder einer Gabel und mit einer Wurzelbürste. Selbst dann ist immer noch Vorsicht geboten. Wir stiefeln weiter vorwärts. Ein Königreich für einen Schluck Wasser! Fabio scheint Gedanken lesen zu können, denn er kramt aus seinem Rucksack eine mezz’aqua minerale.
Auf einmal knallt’s. Ich schrecke zusammen, Fabio zuckt nicht einmal mit der Augenbraue. Jagd ist auf Sizilien wie in ganz Italien eine Art Volkssport, auch wenn es kaum mehr etwas zu jagen gibt. In der Not ballern sie auch mal auf den einen oder anderen Vogel. Obwohl es natürlich gerade im Naturpark allerstrengstens verboten ist. Kopf einziehen!
»Attenzione!«, plötzlich packt mich Fabio am Arm und reißt mich von meinem Aussichtsfelsen, von dem aus ich sehnsüchtig auf das wild bewegte Meer in schillernden Blaugrüntönen geschaut habe. Einige der besten Tauchgründe Siziliens sollen hier liegen.
Er zieht mich zur Seite, als wäre eine Horde wild gewordener Löwen in meinem Rücken zum Angriff bereit. Beinahe. Es war eine Viper im Anmarsch. Fabio hat mich vor dem schlängelnden und züngelnden Untier gerettet. Schätze, ich bin ihm zu ewigem Dank verpflichtet. Als Entschädigung für meinen Verzicht auf fichi d’india hält er mir eine Handvoll kleiner dunkelroter, stacheliger Früchte hin. »Erdbeeren«, sagt er. Jetzt spinnt er völlig, denke ich. Sonnenstich, vermutlich! Erdbeeren sehen ganz anders aus. Nicht diese Erdbeeren, klärt er mich dann auf, sondern Früchte vom Erdbeerbaum, ein immergrüner Strauch mit rötlichem Stamm, der inmitten der Macchia-Vegetation wächst. Ich probiere, die Früchte schmecken reif und saftig, überhaupt nicht erdbeerig. Er bricht mir einen Zweig ab, sagt mir, ich solle ihn über die Türschwelle hängen. Soll Glück bringen und Geister und Dämonen vertreiben. Na dann …
Der Parco Naturale dello Zingaro ist das erste Naturschutzgebiet Siziliens und liegt im Nordwesten zwischen San Vito lo Capo und Scopello, etwa fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Trapani. Er wurde 1981 auf öffentlichen Druck hin
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